Es ist ruhig an Tokios Waterfront , sonntagsfriedensruhig. Dabei ist das hier doch der Weg zum Ariake Urban Sports Park. Rechter Hand ragen die Stahlrohrtribünen auf, zwischen denen gerade eine besondere olympische Premiere stattfindet, die des Lifestylesports Skateboarden nämlich. Die Vorläufe der Disziplin Street müssten schon angefangen haben, und auch wenn man nicht in überflüssige Klischees abgleiten will: Leise dürfte ein richtiger Skateboard-Contest eigentlich nicht sein.
Wenig später schaut man tatsächlich über die hellgraue, mit Stufen, Geländern und Rampen durchsetzte Betonlandschaft, in der die Teilnehmer des Wettbewerbs ihre Kunststücke zeigen. Über der Szene liegt die Stimme eines ausdauernden Kommentators sowie eine Art Lounge-Rock, welcher die Sportstätte unter sanfte rhythmische Schwingungen setzt. Das alles haben die Veranstalter wohl so ausgepegelt, dass die Anwohner nicht gestört werden, und weil die Ränge ja ohnehin leer sein müssen, kann auch keine begeisterte Menge zu hören sein. Das Skateboarden hätte eine stimmungsvollere Olympia-Premiere verdient gehabt. Aber die Pandemie ist nun mal da. Und dass Yuto Horigome vor Kelvin Hoefler (Brasilien) und Jagger Eaton (USA) der erste Skateboard-Olympiasieger der Geschichte wurde, ein Tokioter aus Ariakes Umgebung also, wenn auch einer, der vor fünf Jahren an den Puls des Sports nach Los Angeles zog - das werden jene Anrainer, die es mitbekommen wollten, sicher auch mitbekommen haben.
Jedenfalls war dieser Artistenwettstreit von Ariake am Sonntag kein olympischer Wettkampf wie jeder andere. Skateboarden ist endlich drin im Programm der Ringe. Für Leute, die Olympia als eine Messe aller grundlegenden menschlichen Bewegungen sehen, war das ein längst überfälliger Schritt. Und zwar nicht nur weil das Internationale Olympische Komitee (IOC) neue Zielgruppen braucht. Sondern weil Skateboarden, dieser schwierige, kreative, ungnädige Sport, die weltweit verbreitete Kerndisziplin eines urbanen Lebensstils ist, der schon lange Moden, Musik und Einstellungen prägt.
Kalifornische Surfer haben es in den 1940er-Jahren aufgebracht, die ersten Contests gab es in den Sechzigern. Anders waren diese Skateboard-Leute halt, individualistisch, nicht auf Mannschaften oder Trainingspläne festzulegen. Deshalb konnte der olympische Sport mit ihnen lange nichts anfangen. Umgekehrt war den Skateboardern der Ringe-Kosmos fremd - und ist es teilweise heute noch. In ihren Freundeskreisen war nicht jeder begeistert über den Einzug des Skateboardens in die Welt der Medaillen und Nationalfahnen. Mancher fand die Qualifikation durch den jungen Verband World Skate undurchsichtig und sieht dort Fachfremde am Werk.
Bleibt die Frage, ob auch die Nichtskateboarder-Gesellschaften den Wert des freien Skatens verstehen
Aber niederschmetternd scheint der Aufschrei nicht zu sein. Im Wintersport der Neunzigerjahre gab es mal einen richtigen ideologischen Richtungsstreit. Als Snowboarden, sozusagen das Skateboarden des Winters, 1998 in Nagano olympisch wurde, stieg der Weltskiverband Fis in den Sport ein. Das sahen die beseelten Freigeister als eine Art feindliche Übernahme durch geldgierige Skispießer.
Davon ist wenig übrig geblieben. Und die Skateboardindustrie ist so gewachsen, dass Olympiawidersacher es vielleicht auch gar nicht mehr nötig haben, sich zu sehr aufzuregen. Für manche Skater kommen die Spiele ohnehin nicht infrage. Sie sehen sich eher als Actionkünstler und machen ihre Tricks für Video- und Foto-Produktionen. Andere fühlen sich möglicherweise in den traditionellen Einladungsevents wie den X-Games des Sportsenders ESPN wohler.
Und wieder andere wollen sich eben nicht die Chance verbauen, die man auf der olympischen Bühne bekommt. Schon gar nicht in der US-Skateboardszene, dem Urmarkt des wettbewerbsmäßigen Skatens. In Tokio hat deshalb zum Beispiel das weltweit berühmte Skateboard-Idol Tony Hawk den Parcours getestet - der 53-Jährige ist bei den Spielen als Korrespondent für den amerikanischen Olympia-Sender NBC im Einsatz. Und der Kalifornier Nyjah Huston, 26, am Sonntag als Favorit gestartet und letztlich Siebter geworden, wollte im Rahmen des Wettkampfes sicher auch über seine neue Board-Firma reden. Skateboarder sind eben oft auch Unternehmer. Sie haben klare Haltungen und wissen, was sie wollen von der Öffentlichkeit.
Zwei Skateboard-Disziplinen kommen in Tokio zur Aufführung, Street und Park, jeweils für Männer und Frauen, wobei in der Kategorie Park zum Teil tatsächlich sehr junge Leute am Start sind, zum Beispiel die zwölfjährige Japanerin Kokona Hiraki und die 14-jährige Deutsche Lilly Stoephasius. Olympia hat eine bunte Gruppe von Menschen dazugewonnen durch die Ankunft der Skateboarder. Sie sind Sportler des freien Marktes, keine dressierten Kadermenschen, das macht sie teilweise sehr interessant.
Und bei der Premiere hatte man nicht den Eindruck, als habe das IOC sie zu sehr mit Formalien belästigt. Unter den Ringen lebte tatsächlich der Geist der Skater. "Skateboarden ist mehr als Wettkampf", sagte der Olympiasieger Yuto Horigome, "beim Street-Skaten in der Stadt geht es nicht darum, perfekt zu sein. Ich wollte Tricks landen, die ich in den Straßen nie vorher gemacht hatte. Das ist Teil meiner Erfahrung, und bei diesen Spielen konnte ich diese Erfahrung greifen."
Die Frage ist nur, ob die Nichtskateboarder-Gesellschaften den Wert des freien Skatens verstehen. Gerade in Japan gibt es Anzeichen dafür, dass die Behörden dort skeptisch sind. Im Mai berichtete die Nachrichten Agentur Kyodo, dass es Beschwerden gebe über Skateboarder im öffentlichen Raum, Lärm, Verkehrsregel-Überschreitungen, Sachbeschädigungen. Zum Beispiel habe die Polizei in Toyohashi, Präfektur Aichi, zwischen Januar und März bei 27 Skateboard-Vorfällen einschreiten müssen. Prompt habe die Polizei reagiert - und mehr Skateboarden-Verboten-Schilder aufgestellt.
Ruhe ist hier eben manchmal wichtiger als das Gefühl des Einzelnen, mit seinen Skateboardfreunden in der Stadt abhängen zu wollen. Vielleicht wohnt der japanische Skateboard-Olympiasieger Yuto Horigome deshalb nicht mehr in Tokio, sondern in Los Angeles.