Olympia:Der Turner, der nie mit dem falschen Fuß aufsteht

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Wie ein kleiner Sieg: Die deutsche Riege mit Lukas Dauser, Andreas Toba, Nils Dunkel und Philipp Herder (von links) rückt geschlossen ins Finale ein. (Foto: Marijan Murat/dpa)

Zu schwach für Olympia? Die deutsche Riege geht euphorisiert ins Teamfinale. Lukas Dauser wird am Barren zum Medaillenkandidat - weil er die Ordnung beherrscht.

Von Volker Kreisl, Tokio

Ordnung muss sein, das weiß jeder. Manche lieben das Aufräumen, weil es das Leben erleichtert, andere verachten es lässig und suchen hektisch nach dem Schlüssel, der Brille oder dem Ladegerät.

Der Turner Lukas Dauser jedenfalls weiß immer, wo alles ist. Wenn er am Barren durchschwingt, dann folgen seine exakt gestreckten Beine einer klar gezogenen Linie zwischen den Holmen. Und dann, wenn er sich im Handstand von einem Holm zum anderen um 180 Grad dreht, findet die freie Hand wie vom Autopiloten gesteuert den nächsten Griff. Die Beine flattern nicht irgendwo in der Luft herum, sondern bleiben in Position. Und auch unter höchster Anstrengung weisen die Zehenspitzen alle miteinander zum Turnhallendach. Dauser hasst Unordnung.

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Gehen lassen kann er sich dann ja hinterher. Wenn er wieder - nach akkuratem Sprung mit Rückwärts-Doppelsalto und halber Drehung - auf der Matte steht, wenn die Erleichterung heraus muss und er kurz mal unkoordiniert herumbrüllt. Aber nicht nur Dauser, alle vier deutschen Turner hatten am Samstag einen späten Auftritt, der schließlich derart gelang, dass Trainer Valeri Belenki zu hüpfen begann und einem riesigen Publikum zuwinkte und -wedelte, das wegen Corona gar nicht da war, dafür aber eine kleine, recht laute Abordnung des deutschen Trosses.

Nur der Chinese Zou Jingyuan liegt vor Dauser

Dies hier war nur eine Qualifikation für die ab Montag beginnenden Wettkämpfe, doch für Belenki und seine Turner muss es sich angefühlt haben wie ein echter Sieg. Auch in den Reihen des Deutschen Turner-Bundes hatte man die Möglichkeit eines Finaleinzuges unter die besten zwölf Teams skeptisch gesehen. Denn dazu dürfe nichts schiefgehen, so der Gedanke, jede Übung müsse sitzen, und ein oder zwei Aussetzer passieren doch immer. Was also niemand ahnen konnte: Es saß tatsächlich jede Übung.

Dauser, Andreas Toba, Nils Dunkel und Philipp Herder gaben sich keine Blöße. Hier und da kam es zwar zu einem Wackler, einen etwas überdehnten Handstand an den Ringen, aber es geschah nichts, was den Rhythmus störte. Am Ende stand das Team nicht nur gerade mal unter den besten Acht, sondern platzierte sich sogar auf Rang sechs. Anders erging es den Teamkolleginnen am Sonntag. Sie verpassten das Teamfinale knapp, vor allem deshalb, weil Sarah Voss und Pauline Schäfer am Stufenbarren und Schwebebalken schwere Fehler unterlaufen waren. Ihr Ziel hatte dagegen Elisabeth Seitz erreicht, sie steht im Barrenfinale und, gemeinsam mit Kim Bui im Mehrkampffinale.

Stilprägend: Lukas Dauser turnt sich ins olympische Barren-Finale. (Foto: Dylan Martinez/Reuters)

Dennoch, das Frauenteam wirkte zeitweise wie das Gegenteil der euphorisierten Turner. Die hatten tags zuvor neben dem Team- auch das Mehrkampffinale erreicht, zum Zuge kamen Dauser und Philipp Herder, der den etwas schlechter platzierten Toba verdrängte, denn nur zwei aus einer Mannschaft sind erlaubt. Und weil auch bei Dausers Barrenübung alles gesessen hatte, zog dieser zudem in das Einzelfinale am 3. August ein.

Vielleicht hat in seinem recht unordentlichen Ausbruch unmittelbar nach der Übung auch schon eine Vorahnung gelegen, was die Note betraf. Die zweitbeste war es dann im gesamten olympischen Barrentableau, nur der Chinese Zou Jingyuan liegt vor ihm, er ist unter Normalform für keinen aus dem restlichen Feld zu bezwingen. Jedoch befindet sich Dauser auf Augenhöhe mit einer Reihe weiterer Spezialisten, die er nun auch im Finale durchaus hinter sich lassen könnte, mit seiner Turn-Philosophie: Mögen die anderen, der Chinese You Hao, der Türke Ferhat Arican oder der US-Amerikaner Samuel Mikulak ruhig ihre Höchstschwierigkeiten bieten - der zurzeit beste Deutsche verzichtet auf die Zehntel der riskanten Teile. Er achtet auf die Haltung.

Wer die Ordnung beherrscht, der kassiert weniger Abzüge und kann auch mit den Künstlern mithalten, das ist sein Grundsatz. Und Dauser hat die Ordnung im Turnen zum Prinzip erhoben. Das fängt schon mit seiner Sporttasche an. Es heißt, darin sei alles immer an seinem ganz speziellen Platz verstaut. Ordnung heißt aber auch, nicht nur Dinge aufzuräumen, sondern auch Gedanken. Dauser ist akkurat, so sehr, dass er auch im Aberglauben Ordnung hält. Er steht nämlich, wie er selber erklärt, morgens keineswegs mit dem rechten oder mit dem linken Bein auf - sondern mit beiden auf einmal. "Da kann ich nicht mit dem falschen aufstehen", sagt er und lächelt, doch man hört durch, dass es ihm damit auch ernst ist. Genau wie mit seinem Ziel: "Ich habe so viele Stunden an dieser Barrenübung gefeilt, ich wollte die unbedingt perfektionieren."

Ordnung, Zuverlässigkeit, Vernunft - das klingt nicht nach Glamour, aber nach Erfolg

Ein bisschen von Dauser steckt nun im gesamten deutschen Turnteam, das nach den Rücktritten, Blessuren und Verletzungen der erfolgreichen Riege der frühen Zehnerjahre herangewachsen ist. Die nächste Generation hat ihre eigene Art. Die Vier von Tokio haben vielleicht weniger Charisma und Talent, aber sie schöpfen ihre Möglichkeiten aus, wozu auch immer ein ordentlicher Plan gehört.

Der 30-jährige Andreas Toba will nicht reduziert werden auf die Heldenleistung von Rio, als er trotz Kreuzbandrisses fürs Team noch einmal antrat. Diese Befreiung aus dem Klischee ist ihm in Basel gelungen, als er kürzlich EM-Zweiter am Reck wurde. Nils Dunkel, 24, zeigt mit die beste deutsche Übung am Pauschenpferd, und Philipp Herder, 28, sagt ganz offen, warum er in seiner auch schon fortgeschrittenen Laufbahn nie nach einer Einzelmedaille strebte: "Für mich war Turnen immer Vielseitigkeit", sagt er. Das eine Gerät, das ihn fasziniere, um sich daran abzuarbeiten, habe er all die Jahre nicht gefunden. Nun ist er mit seiner Zuverlässigkeit einer der wichtigsten Turner in Belenkis Abteilung.

Ordnung, Zuverlässigkeit, Vernunft, das klingt nicht nach Glamour, Spontanität und Spaß. An diesem ersten Samstag der Spiele aber war es diese gut planende deutsche Mannschaft, die von Gerät zu Gerät immer mehr aus dem Häuschen geriet, deren Jubel durch die leere Arena hallte. Es erinnerte an die Ziehung der Lottozahlen. Mit jeder gelungenen Übung wurden die Lufthiebe der Kollegen kräftiger, das ungläubige Staunen größer und die Gratulationen inniger, besser kann der renommierteste Sportpsychologe ein Team nicht zusammenschweißen. "Natürlich", sagte Andreas Toba hernach allen, die es nicht mehr glaubten, "natürlich kann auch dieses Team bei Olympia eine Medaille holen."

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