Das Konzert der Zikaden wird jetzt in die ganze Welt übertragen. Nur weil keine Zuschauer auf den Tribünen sitzen, ist es mitnichten still beim Bogenschießen: Die Insekten summen laut, sie summen unaufhörlich, mit einem Geräusch, dass sich zwischen Rasensprenger und Drohne bewegt. Auch Hubschrauber flogen am Sonntagmorgen über dem Yumenoshima Park mitten in Tokio, als die drei deutschen Bogenschützinnen Lisa Unruh, Michelle Kroppen und Charline Schwarz ihr Achtelfinale gegen Weltmeister Taiwan bestritten. Hat's gestört, das Summen und die Motoren? "Davon lassen wir uns nicht abhalten, gut zu schießen", sagte Kroppen, 25. Und es ist ja auch so: Wenn der eigene Trainer auf der Tribüne ausflippt, bekommt man das unten jetzt auch ganz gut mit.
"Trampolin springen" nennen die drei Sportlerinnen, wenn sie selber ausflippen und Arm in Arm ihre Siege bejubeln, und das sah man nun auch: Als sie Bronze gewannen, mit 5:1 gegen Weißrussland, da gingen erst ein paar martialische Schreie durch die Arena und dann wurde gehüpft. "Ich wusste selber gar nicht, dass ich so schreien kann", sagte Kroppen. "Bäm, Arschbacken zusammen, es war geil!" stieß Unruh aus - sie war voller Adrenalin, was man verstand, wenn man die vergangenen 30 Minuten gesehen hatte: Da war ihr erst der größte Patzer des Tages unterlaufen - und schließlich zeigte sie den wertvollsten Schuss zu Bronze.
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Auch wenn kein Zuschauer bei den Olympischen Spielen dabei ist, so machen die Stadionsprecher doch ihren Job. Unruh trat im kleinen Finale um Bronze zu ihrem letzten Schuss an, "a ten is required to win", schallte es da durch die Arena, nichts anderes als die höchste Punktzahl musste sie also erreichen, sonst wäre die Partie in den nächsten Satz gegangen. Okay, wenn es sonst nichts gibt, konnte man sich da denken. Und genauso schoss die 33-Jährige dann auch: Fokussiert schickte sie den Pfeil auf die Reise, und der flog ins gelbe Herz der Scheibe. Im Halbfinale kurz zuvor war ihr noch ein Missgeschick passiert: Am Ende des zweiten Satzes landete ihr Pfeil nur bei einer Zwei, die Russinnen gewannen schließlich, für sie gab es später Silber gegen die Olympiasiegerinnen aus Südkorea. "Ich habe mich tierisch aufgeregt und dachte: Okay, vergessen, vergessen, vergessen", erklärte Unruh, die folgenden Pfeile brachten wieder die volle Ausbeute, "so soll das sein".
In Rio de Janeiro gewann Unruh die erste deutsche Einzel-Medaille im Bogenschießen
Vor fünf Jahren bei den Spielen in Rio hatte das deutsche Bogenschießen einen steilen Karrieresprung hingelegt, in Brasilien gewann Unruh Silber. Es war damals die erste Einzel-Medaille für das deutsche Bogenschießen überhaupt. Und wie konzentriert sie mit ihrem Anglerhut den Bogen spannte, begeisterte viele Zuschauer vor dem Fernseher. "Das war schon so ein: Hallo, wir sind auch da, wir können auch was", sagte Unruh nun in Tokio, sie hat ihrem Sport viel Aufmerksamkeit verliehen. Und nun haben sie also auch im Team bei Olympia ihre Stärke bewiesen, alle drei leben und trainieren in Berlin, "wir sehen uns jeden Tag", sagt Charline Schwarz, 20. In der Qualifikation am Freitag hatte man der Jüngsten im Team noch die Nervosität auf der olympischen Bühne angemerkt, da wurde sie nur 60. von 64 Athletinnen. "Da war ich kurz niedergeschlagen", gab sie zu, "aber dann habe ich es abgehakt. Man hat Höhen und Tiefen. Ich weiß, dass ich Teamschießen kann, und die anderen wussten es auch". Ihr letzter gemeinsamer Erfolg liegt ja nur ein paar Wochen zurück: Anfang Juni bei der EM in Antalya sicherten sie sich Silber.
Im olympischen Dorf bewohnen sie gemeinsam ein Appartement, diese Spiele sind für Lisa Unruh nun auch aus einem anderen Grund ganz besondere: Sie kann sie gemeinsam mit ihrem Ehemann verbringen. Nach der Hochzeit hat Florian Kahllund ihren Nachnamen angenommen, natürlich hat er sich auch dem Bogenschießen verschrieben. "Das alles hier zusammen zu erleben, ist wunderbar", sagt Unruh, auch wenn ihr Mann am Vortag zusammen mit Michelle Kroppen das Achtelfinale im erstmals ausgetragenen Mixed-Wettbewerb verloren hatte. Kroppen konnte aber auch Gutes aus dem Wettbewerb ziehen und erste Erfahrungen aus der Arena an ihre Kolleginnen weitergeben. Sie wusste nun, dass der Wind hier auch mal Streiche spielen kann. Ihr Motto lautete schließlich: "Einfach alle Augen und Ohren offen lassen und alles, was fühlen kann, fühlen lassen." Empfindungen sind dann doch extrem wichtig beim Bogenschießen - und natürlich das richtige Reagieren.
Was dann ja auch Unruh genutzt hat, als sie die zehn Ringe zum Sieg schoss. "Ich habe gemerkt, wie meine Kolleginnen mich angefeuert haben, das hat mir sehr viel Kraft gegeben", sagte sie auf der Pressekonferenz, da hatte sie schon die Medaille um den Hals hängen. Ein ganzes Flugzeug würde ja zwischen die Scheibe und die Linie zum Abfeuern der Pfeile passen, da kann man sich in einem Einzel auch schnell verloren fühlen. Die Unterstützung aus der Nähe zu spüren, ist ein Vorteil des Team-Wettbewerbs. "Ein unfassbar tolles Gefühl ist dieser Moment, wenn einer den Schuss vielleicht nicht so gut gemacht hat, aber die anderen beiden sind da", schwärmte sie, "das pusht einen so und man weiß, man ist einfach zusammen da."
Ein deutsches Haus zum Feiern der Medaille gibt es in Tokio aufgrund des Coronavirus nicht, "wir gönnen uns heute richtig und spielen Karten", kündigte Unruh an. Außerdem steht ja auch noch der Einzelwettbewerb an, dafür sollen die Kräfte geschont werden.
Es sind aufregende Zeiten für sie alle, und manchmal merkt man das am intensivsten mit einem kleinen Blick zurück. Im Herbst 2019 musste sich Unruh an der Schulter operieren lassen, "hätten die Olympischen Spiele letztes Jahr stattgefunden, hätte ich sie wahrscheinlich verpasst". Und nun lagen sie sich in den Armen und sprangen Trampolin.