Corona in Japan:Die größte Welle kommt während Olympia

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Der Glanz der Medaillen scheint manche abzulenken von den Corona-Bilanzen: Passantinnen lassen sich vor den olympischen Ringen in Tokio ablichten. (Foto: Yuichi Yamazaki/Getty Images)

Es sollten glückliche Tage sein für Japan: Die Spiele laufen gut, die Heim-Mannschaft ist stark. Doch die Corona-Neuinfektionen befinden sich auf einem Rekordhoch - Befürchtungen scheinen sich zu bewahrheiten

Von Thomas Hahn, Tokio

Der Mediziner Masaya Takahashi ist zornig und ruhig, allerdings in erster Linie ruhig, deshalb sieht man seinen Zorn nicht gleich. Zwei Wochen vor den Olympischen Spielen saß er in einem schmucklosen Raum des Tachikawa-Sougo-Krankenhauses im Westen Tokios und sprach über die bitteren Wahrheiten der Pandemie. Masaya Takahashi leitet das Krankenhaus, die Corona-Krise ist für ihn nicht nur irgendeine entfernte Unannehmlichkeit, sondern oft genug ein sehr realer Kampf um Leben und Tod.

Die Lage hatte sich gerade etwas entspannt. Er berichtete von den Zeiten, in denen sein Haus Covid-19-Patienten ablehnen musste, weil es kein freies Bett mehr für sie hatte. Er erklärte, warum er die Schilder in die Fenster seines Krankenhauses geklebt hatte, auf denen Passanten in der Fußgängerzone lesen konnten: "Die medizinischen Kapazitäten haben ihre Grenze erreicht" - "Stoppt Olympia!" - "Olympia ist unmöglich!" Die Spiele mit ihren Zehntausenden Gästen nannte er "eine Katastrophe". Sein Horrorszenario? "Wenn die tägliche Anzahl in Tokio auf mehr als 2000 ansteigt."

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:Spiele, egal, was passiert

Die Olympischen Spiele, die in Tokio inmitten einer Pandemie eröffnet werden, vereinen mehr als die üblichen Gegensätze. Über die Frage, was das größte Sportereignis der Welt noch retten kann und soll.

Essay von Thomas Hahn

Am Donnerstag meldete Tokios Präfektur-Regierung mitten hinein in die japanische Medaillen-Hausse: 3865 Coronavirus-Neuinfektionen, so viele wie noch nie. Im ganzen Land schnellte die Zahl zum ersten Mal auf über 10 000. Am Freitag meldete Tokio dann 3300 Neuinfektionen und die Nationalregierung beschloss, den Coronovirus-Notstand von der Hauptstadt auf dessen drei Nachbarpräfekturen Chiba, Kanagawa und Saitama sowie auf Osaka auszuweiten. Und die Antwort, die Masaya Takahashi per E-Mail auf die Frage nach der Lage in seinem Krankenhaus schickte, klang nicht gut. "Die Zahl der Corona-Betten ist seit dem 16. Juli von 16 auf 20 erhöht, aber die Betten sind immer noch fast voll. In einigen Fällen konnten wir nicht auf Anfragen für Corona-Patienten reagieren", schrieb er, "in dieser Jahreszeit kommt es unter anderem häufig zu Hitzschlägen, aber diese Woche haben wir fast die Hälfte aller Krankenwagen abgelehnt."

Es sollten eigentlich glückliche Tage sein für Japan. Die Olympischen Spiele laufen weitgehend reibungslos, die Heim-Mannschaft ist stark. Aber das Coronavirus gibt keine Ruhe. Japan, das Land, das lange so wirkte, als könnten seine Menschen mit Disziplin und Maskentragen Ausbrüche wie in den USA oder Deutschland vermeiden, erlebt eine fünfte Welle, die größer ist als alle Wellen zuvor. Die Delta-Mutante ist zu spüren, Befürchtungen bewahrheiten sich.

Der Virologe Omi sagt: "Jetzt gibt es kaum noch Faktoren, die die Zahl der Infektionen eindämmen können."

Nach Angaben der japanischen Regierung sind mittlerweile fast 28 Prozent der 126 Millionen Menschen im Land geimpft, vor allem unter Älteren ist die Impfquote hoch - das erklärt, warum es relativ wenige Todesfälle gibt. Aber wer weiß, was passiert, wenn die Zahl weiter steigt. Auf hochansteckende, potenziell tödliche Infektionskrankheiten ist Japans Gesundheitssystem auch im zweiten Sommer der Pandemie nicht gut eingestellt. Und für Shigeru Omi, den ersten Regierungsberater in Coronavirus-Fragen, ist die aktuelle Corona-Lage so etwas wie ein Dammbruch. "Jetzt gibt es kaum noch Faktoren, die die Zahl der Infektionen eindämmen können", sagt er. Japans Gesundheitssystem werde bald überfordert sein, wenn die Gesellschaft nicht bald ein Krisenbewusstsein entwickle.

Bitte gehen Sie weiter, es gibt hier nichts zu sehen: Ein Helfer weist darauf hin, dass Zuschauer beim Radrennen im Musashinonomori Park nicht erlaubt sind. (Foto: Carl Court/Getty Images)

Aber das ist schwierig. Japan begeht das größte Sportfest der Welt. Jeden Tag kann man im Fernsehen japanische Sportler sehen, die nicht nur gesund sind, sondern auch so stark, dass sie von einem Sieg zum nächsten eilen. Auch am Freitag gab es wieder Gold, diesmal für das Männerteam im Degenfechten sowie für die Schwergewichtsjudoka Akira Sone. Japanische Helden. Wie soll man da an Krise glauben?

"Olympia findet statt. Da denken die Leute, dann können wir ja jetzt auch in die Stadt gehen", sagt Teppei Misaka. Er steht im Yoyogi-Park, der grünen Lunge Shibuyas nicht weit vom olympischen Handball-Standort, dem Yoyogi National Stadium. Er hat seinen Hund auf dem Arm und wirkt selbst nicht besonders alarmiert. Misaka ist Schauspieler, bekannter unter seinem Künstlernamen Teppei Steel. Vielleicht liegt es daran, dass er eher auf der Seite der Unterhaltung steht. Er schaut Olympia, er freut sich über die vielen japanischen Medaillen, "sehr" sogar.

Er nimmt es auch hin, dass der Yoyogi-Park gerade etwas zugebaut ist. Auf der großen Wiese war mal eine Public-Viewing-Zone geplant. Das öffentliche Olympia-Schauen wurde wegen Corona abgesagt, aber die Verträge zum Bau waren wohl fix, also rückten die Laster trotzdem an; zwischen den Absperrungen ist nun ein Impfzentrum. Störend? Darüber habe er nicht so viel nachgedacht, sagt Teppei Misaka. "Wegen Olympia wurde die Autobahnmaut erhöht - das muss ich auch hinnehmen."

Einsame Stimmen: Die Proteste der Olympia-Kritiker wurden in Japan zuletzt von guten Nachrichten rund um die Spiele verdrängt - das könnte sich aber bald wieder ändern. (Foto: Carl Court/Getty Images)

Es gab in den Monaten vor Olympia viele Vorstöße von Ärzte-Organisationen, die vor Olympia warnten. Auch Shigeru Omi nannte es "nicht normal", dass die Spiele stattfinden, obwohl die Pandemie noch nicht unter Kontrolle ist. Aber die Beharrungskräfte von japanischer Regierung und dem Internationalen Olympischen Komitee (IOC) waren nicht zu überwinden. Die Spiele kamen. Jetzt sind sie da und entfalten ihre Kraft. Natürlich nur im Fernsehen. Zum Infektionsschutz dürfen ja keine Zuschauer in die Stadien. Und die Veranstalter führen den olympischen Tross ziemlich konsequent an den Menschen in Tokio vorbei. "Ich spüre nicht so viel, dass die Spiele in der Stadt sind", sagt Teppei Misaka.

"Ich spüre das überhaupt nicht", sagt wenig später eine Frau, die im Einkaufsviertel Omotesando aus einem Shopping-Zentrum kommt. Sie arbeitet in einer Bekleidungsfirma nahe dem Nationalstadion, in dem an diesem Freitag die Leichtathletik-Wettbewerbe begonnen haben. "Trotzdem spüre ich nichts." Die Spiele von Tokio sind die diskretesten der olympischen Geschichte.

Aber die Frage bleibt, welchen Anteil sie an Japans neuer Corona-Welle haben. "Ich glaube keinen", sagte Premierminister Yoshihide Suga zu Reportern, als er danach gefragt wurde. Mit strengen Grenzkontrollen und anderen vorbeugenden Maßnahmen habe man dafür gesorgt, dass Olympia keine Virenschleuder sein kann. Und auch das IOC weist jeden Zusammenhang zurück. Athleten und Mitarbeiter würden ständig getestet, außerdem unterlägen sie strengen Quarantäne-Maßnahmen. "Sie leben im Grunde in einer anderen Parallelwelt", sagt Sprecher Mark Adams.

Noch ist ein bisschen Zeit bis zum Erwachen in der nacholympischen Gesundheitskrise

Das stimmt, und doch ist es nicht so einfach. Denn Athleten und deren Trainer sind ja nur eine von mehreren Gruppen, die an den Spielen teilnehmen. Es gibt Medienschaffende, Techniker, Funktionäre, die dies ebenfalls tun. Knapp 40 000 Menschen sollen laut IOC bis Dienstag für die Spiele aus Übersee eingereist sein. Wer zu diesen gehört, darf zwei Wochen nach der Anreise die sogenannte Olympia-Blase nicht verlassen, darf sich also nur zwischen Hotel, Sportstätten und Pressezentrum bewegen, keine öffentlichen Verkehrsmittel nutzen, nicht nach Belieben in der Stadt einkaufen oder essen gehen.

Aber Spiele-Beteiligte, die in Tokio leben, dürfen sehr wohl zwischen Zuhause und Blase pendeln. Sie sollen sich zwar nach dem Regelbuch der Tokio-Spiele auch von der Allgemeinheit möglichst distanzieren und unterliegen regelmäßigen Tests. Aber ganz geschlossen ist die Blase nicht. Das Risiko ist da, dass die neue Corona-Welle mit der Zeit in die Olympische Blase hineinsickert oder Infizierte das Virus aus ihr hinaustragen. Regelmäßig meldet das Organisationskomitee Tocog Corona-Fälle mit Olympia-Bezug. Am Donnerstag waren es mehr denn je, 24 insgesamt. 17 davon wohnen in Japan. Am Freitag kamen nochmal 21 dazu.

Der Glanz der Medaillen scheint abzulenken von den Corona-Bilanzen, und die Spiele gehen bis 8. August weiter. Insofern ist noch ein bisschen Zeit bis zum Erwachen in der nacholympischen Gesundheitskrise. Krankenhaus-Chef Masaya Takahashi bereitet sich allerdings schon darauf vor. Nächste Woche wird er die Zahl der Betten für Corona-Betten auf 35 erhöhen. Das Problem: "Dann müssen wir die Aufnahme der allgemeinen Notfallpatienten noch mehr einschränken." Mit solchen Engpässen werden die Menschen in Japan wohl umgehen müssen, wenn der olympische Tross weitergezogen ist.

Mitarbeit: Sachiko Suga

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