Nachruf auf Nobby Stiles:Sein Tod bringt England ins Grübeln

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Blumen der Trauer: Fans nehmen in Manchester Anteil am Tod des 1966-Weltmeisters und früheren United-Profis Nobby Stiles. (Foto: Clive Brunskill/Getty Images)

In 1966-Weltmeister Nobby Stiles stirbt wieder einer der "Helden von Wembley" nach einer Demenzerkrankung. In Englands Medien flammt eine Debatte um die Langzeitschäden von Kopfbällen neu auf.

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Manche Geschichten beginnen erdbebengleich - und erfahren dann eine kaum zu glaubende Steigerung. "Ich wurde als halbblinder Zwerg geboren, der von den Deutschen bombardiert wurde und als Einjähriger von einem Trolleybus überfahren wurde", schrieb Nobby Stiles in seiner Autobiografie. Was danach die Steigerung war? Nun, Stiles wurde ein Fußballidol, in dem sich jeder Engländer wiederfinden konnte, als Stiles knapp 24 Jahre später, 1966, in London Weltmeister geworden war.

Ungelenk tanzte er damals nach dem 4:2-Finalsieg gegen die Deutschen über den Rasen des Wembley-Stadions - und hielt die Frontzähne in der einen Hand, den ersten und bis heute einzigen Weltpokal, den England je gewann, hielt er in der anderen Hand, sein damals schon schütteres Haar war zerzaust.

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Nun verstarb Stiles im Alter von 78 Jahren, "nach langer Krankheit", teilte seine Familie am Freitag mit. England beweint wieder einen seiner Helden von Wembley.

Dass Stiles halbblind war - und blieb - muss stimmen. Die Zeitung Guardian druckte am Samstag ein Foto jener Kontaktlinsen, die er damals im Endspiel von Wembley trug. Sie sahen fensterdick aus und ließen ihn scharf gucken - wenn er wollte. "Ich seh' mit meinen Linsen nix, Ref', das Flutlicht blendet mich", entschuldigte sich Stiles einmal bei Referee Pat Partridge nach einem rüden Foul. Eine gelbe Karte gab es trotzdem. Als Partridge sich den Namen notierte, schaute ihm Stiles über die Schulter. Und korrigierte ihn: "Man schreibt das mit 'i', nicht mit 'y'."

Medien rügen die mangelnde Fürsorge der Branche für ihre alternden Idole

Stiles, der seine natürlichen Zähne als Halbstarker bei einer Rauferei verloren hatte, war so sehr der Inbegriff des harten, oft überharten defensiven Mittelfeldspielers, dass viele seine taktische Finesse und passable Technik übersahen. Dass er im Finale von Wembley dabei sein durfte, war nur Trainer Alf Ramsey zu verdanken, der wegen Stiles einen Machtkampf mit dem Verband riskiert hatte.

Beim Gruppensieg gegen Frankreich (2:0) hatte Stiles den französischen Regisseur Jacques Simon vom Platz getreten; Englands Verband verlangte, Stiles rauszuwerfen. "Erst nach dem Tod von Alf habe ich erfahren, dass er mit Rücktritt gedroht hatte. Was für ein Mann", sagte Stiles später. Dass er bleiben durfte, war fundamental - weniger im Finale als im Halbfinale gegen Portugal. Er solle die Nummer 10 der Portugiesen "ausschalten", trug ihm Ramsey auf. "Jetzt für dieses Spiel oder für immer?", fragte Stiles - und verwandelte jene Partie in "Eusébios Spiel der Tränen".

Zwei Jahre später sahen beide einander wieder, im Europapokalfinale der Landesmeister von 1968: Eusébio im Dress von Benfica Lissabon, Stiles in den Reihen von Manchester United. Wieder siegte Stiles, wieder lachte er ohne Frontzähne, als er den Pokal hochhielt, der ein wenig von jenem Leid linderte, das seit dem Tod der "Busby-Babes" bei der Flugzeugtragödie von München 1958 auf United lastete, dem einzigen Klub, den Stiles liebte, obwohl er in den 1970er-Jahren auch bei Middlesbrough und Preston spielte.

Stiles war als 15-Jähriger zu United gekommen. Sein Vater, ein Bestatter, fuhr ihn im Leichenwagen zur Vertragsunterzeichnung. Stiles bestritt knapp 400 Spiele für die Red Devils und gewann nicht nur den Landesmeisterpokal, sondern an der Seite von Spielern wie Bobby Charlton, George Best und Denis Law auch zwei englische Meistertitel. Seine Aufgabe war gewesen, den Ball zu erobern, auf dass die Künstler im Team ihr Werk verrichten konnten. Die Rolle des Komparsen gereichte ihm zu einer wohl nie wieder erreichten Zufriedenheit mit sich und dem Leben. Und dennoch: Es gibt Hinweise darauf, dass der Quell der größten Freude seines Lebens wohl auch die Ursache einer jahrelangen Qual war: seine schleichenden Demenz.

Als er 61 war, wurden erste Symptome festgestellt, zuletzt war seine Familie froh, wenn er den Eindruck vermittelte, zu spüren, dass er in Begleitung war. Stiles' ältester Sohn John ist überzeugt, dass die Krankheit von jenen Kopfbällen herrührte, die sein Vater im Laufe der Karriere gespielt hatte. Zu seiner Zeit waren Bälle noch aus Leder, regengetränkt verwandelten sie sich in bleischweres Gerät. In Englands Medien wurde der Tod von Stiles zum Anlass genommen, den Mangel an Fürsorge einer längst milliardenschweren Branche für ihre alternden Helden zu thematisieren, zumindest die Einrichtung eines Pflegeheims wurde gefordert.

"Werden wir handeln, bevor wir alle unsere Helden von 1966 verlieren?", fragte die Daily Mail und startete eine "Gehirnerschütterungs-Kampagne". Gleich vier der elf Helden von Wembley starben nach Demenzerkrankungen - neben Stiles auch Martin Peters, Jack Charlton und Ray Wilson. Unter den vier Weltmeistern, die noch am Leben sind, befindet sich Bobby Charlton, der ebenfalls an Demenz erkrankt sein soll. Charltons Familie ging es immerhin finanziell erheblich besser als Stiles. Zeitweise sei jener so ruiniert gewesen, dass er einmal nach eigenen Angaben kurz davorstand, das Gaspedal seines Autos durchzudrücken. Im Jahr 2010 wurden seine Siegermedaillen von 1966 und 1968 auf einer Auktion angeboten. United kaufte sie für 209 000 Pfund.

Jahre zuvor hatte Stiles gesagt, keine Erinnerung daran zu haben, wie ihm Queen Elizabeth 1966 auf der Ehrentribüne von Wembley die Siegermedaille überreicht hatte. Wohl aber daran, dass er seinem Kameraden "George Cohen leidenschaftlich auf den Mund geküsst hatte" - und daran, dass er getanzt habe: "Auf einer Flutwelle aus Glück und Adrenalin", wie er sagte. Sie muss sich angefühlt haben wie ein Tsunami.

© SZ vom 02.11.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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