Fußball in England:Ein Trikot zum Hören

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Die Menge aus der Stille holen: Newcastle United stellt die neue Technologie vor - und das Team wirbt auf den Spielerhemden für das Nationale Gehörloseninstitut RNID. (Foto: Colorsport/Imago)

Newcastle United verschafft hörgeschädigten Besuchern ein neues Stadionerlebnis: mit Shirts, die die Stimmung in der Fußballarena in Vibrationen umwandeln - und quasi fühlbar macht. Die Technologie soll bald vielen zugutekommen.

Von Sven Haist

Die Geste des Lokalidols Dan Burn bedeutete den gehörgeschädigten Fans von Newcastle United wahrscheinlich genauso viel wie der Kantersieg ihres Klubs. Nach seinem Tor überkreuzte Burn die Arme, klopfte sich mit den flachen Händen auf die Brust und ballte dann die Fäuste vor dem Körper. Die Abfolge dieser Handbewegungen heißt in der britischen Gebärdensprache: "Liebe die Fans". Die Fernsehkameras fingen sogleich die Reaktion mehrerer gehörloser Kinder im Stadion ein, die vor Begeisterung die Zeichen nachahmten. Einige von ihnen hatten Burn und dessen Teamkollegen Kieran Trippier vor dem Match getroffen und mit ihnen den Jubel einstudiert. Die Aufführung war der Höhepunkt des Newcastle-Spiels, in dem das Erlebnis für taube Stadionzuschauer mehr im Vordergrund stand als Tore und Punkte.

Newcastles Trikotsponsor Sela, eine Sport- und Eventfirma aus Saudi-Arabien, die ebenso dem saudischen Staatsfonds gehört wie 80 Prozent des Traditionsvereins, entwickelte im Rahmen der einmaligen Kampagne "Unsilence The Crowd" (Die Menge aus der Stille holen) das erste Fußballtrikot für schwerhörige und ganz gehörlose Menschen. Das Unternehmen stellte die Idee dem Verein vor, der das Konzept sofort unterstützte.

In Zusammenarbeit mit dem Royal National Institute for Deaf People (RNID) lud der Klub eine Gruppe hörgeschädigter Personen zum Premier-League-Heimspiel gegen Tottenham Hotspur und stattete sie mit den neuen Shirts aus. In Großbritannien leidet jeder fünfte Erwachsene unter einem Hörschaden. Um auf diese Alltagsprobleme aufmerksam zu machen, trat Sela sogar die Trikotwerbung an die Wohltätigkeitsorganisation ab. In einer RNID-Studie gab die überwältigende Mehrheit der befragten Hörbeeinträchtigten an, dass der mit einer Sportveranstaltung verbundene Nervenkitzel im Stadion für sie unschlagbar sei.

Im Stoff der Shirts werden die Geräusche in taktile sensorische Reize umgewandelt

Die neuen haptischen Shirts, die den Stadionlärm in Vibrationen umwandeln, ermöglichten den Fans erstmals ein völlig anderes Spielerlebnis: Sie konnten die Live-Atmosphäre im stimmungsvollen St. James' Park leibhaftig auf der Haut fühlen. Und? Wie fühlte sich Newcastles rauschhaftes 4:0 (2:0) mit zwei Toren innerhalb von 95 Sekunden an? Unter dem Slogan "Was ein Spiel, was ein Tag, was ein Trikot" präsentierte Sela die Reaktionen der gehörlosen Fans anhand von Bildern. Darauf zu sehen: Jubel, Begeisterung und Stolz.

Die Transformation der Geräuschkulisse bei entscheidenden Situationen in ein Echtzeit-Tastgefühl basiert auf komplizierten technischen Mechanismen. Grundvoraussetzung ist die Erfassung der Stadionatmosphäre: Analoge Mikrofonaufnahmen werden durch eine Software in einen digitalen Sound verwandelt und nach Analyse in Daten erfasst. Die Informationen gelangen durch kabellose Antennenübertragung zu den in den Trikots verbauten Elektrogehirnen. Diese bedienen "winzige elektronische Schaltkreise mit einem Mikroprozessor", die wiederum "Motoren in Resonanz mit der akustischen Reaktion der Menschenmenge zum Vibrieren" bringen, heißt es in der Anleitung. Daraus entstehen die taktilen sensorischen Reize auf der Haut der Trikotträger.

Die Technologie soll in Zukunft bei allen Heimspielen des Vereins zur Verfügung stehen und den Zugang von Gehörlosen zu Live-Sportereignissen erleichtern. Newcastles Trainer Eddie Howe würdigte das Engagement des Sponsors und hob die Geste von Burn hervor: Sie zeige, dass der Fußball die Kraft besitze, Menschen mit Erfahrungen zu bereichern, die sie sonst nicht machen würden. Die Beteiligten nutzten den gewaltigen Medienaufschlag in England, um für Nachhaltigkeit in dieser Angelegenheit zu werben. Peter Silverstone, der Kaufmännische Leiter des Klubs, hofft, dass die Initiative das Fußballerlebnis für jeden Hörbeeinträchtigten "revolutionieren" werde - egal, wen man unterstütze. Ähnlich äußerte sich auch Sela-Repräsentant Ibrahim Mohtaseb, der die Fußballszene aufforderte, die neue Technologie einzusetzen.

Dan Burn gab nach dem Spiel an, dass es ihm als Kind immer die größte Freude bereitet habe, die Atmosphäre im Stadion zu spüren. Weil dies gehörlosen Menschen vorenthalten bliebe, habe er mit seinem Jubel unbedingt etwas für sie tun wollen. "Ich war gerührt wegen all der Kinder", sagte er - und denen erging es in diesem Moment wie ihm.

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