Nationalelf:Den Ball bitte ab jetzt direkt zum Tor

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Ballbesitz alleine bringt nichts - die Nationalmannschaft zeigt, dass sie aus der EM gelernt hat. Man fragt sich nur: Warum kommt die Idee erst jetzt?

Von Christof Kneer, Oslo

Joachim Löw war milde gestimmt, er hat gar nicht reagiert auf diese unglaubliche taktische Stümperei. Es war auf die Schnelle ja auch schwer zu beurteilen, ob seinen Untertanen nur eine kleine Ungeschicklichkeit unterlaufen oder ob hier eine größere Meuterei im Gange war. Jedenfalls hatte er diesen Spielzug niemals in Auftrag gegeben, nie hätte Löw befohlen, dass Thomas Müller aus den Tiefen des Mittelfeldes einen langen Pass auf Mesut Özil spielen soll. Umgekehrt vielleicht, aber nicht so herum: Und wie nicht anders zu erwarten war, geriet Müllers Pass um die Winzigkeit von einigen Metern zu lang, und Özils schöner Sprint war umsonst.

Sein Team habe "die Vorgaben von Anfang an sehr gut umgesetzt", lobte der Bundestrainer nach dem gelungenen Start in die nächste WM-Kampagne, und womöglich durfte sich sogar diese Szene aus der 79. Spielminute mit gemeint fühlen. Auch Müllers verrutschter Spielmacherpass auf den Mittelstürmer Özil folgte ja jener Dramaturgie, die Löw für die 90 Minuten in Norwegen und für die zwei Jahre bis zum Turnier in Russland angeordnet hat.

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Vereinfacht gesagt soll es im anstehenden Qualifikationszyklus darum gehen, dass seine Schöpfergeister ihre Kunst nicht mehr in den Dienst der Kunst, sondern in den Dienst der guten Sache stellen - einer guten Sache, wie sie zweifellos jener 3:0-Sieg in Oslo darstellte, den Müller mit zwei Treffern und Joshua Kimmich mit seinem DFB-Premierentor klar machten. Es war ein Spiel, dem man schon deshalb dankbar sein durfte, weil es einem breiteren Publikum ein paar Sportakademikerfloskeln schön farbig erklärte. "Effizienz", "Präsenz": Müller, Özil, Kimmich und all die anderen haben diese Papierwörter zur besten Sendezeit mit Leben gefüllt.

Löw hat es seiner Mannschaft später hoch angerechnet, dass sie mit gestrafften Sportlerkörpern ins Ullevaal-Stadion eingelaufen ist, keine ganz leichte Übung in jenem atemberaubend lässigen Spätsommer-Oslo, in dem man lieber den ganzen Tag draußen sitzen möchte. Die norwegischen Zuschauer hatten sich für den Weltmeister eine listige Taktik einfallen lassen, sie kamen als Norweger - was bedeutet, dass sie für dieses Sportereignis deutlich mehr Leidenschaft entwickelt hätten, wenn es ein paar S-Bahn-Stationen weiter draußen am Holmenkollen auf schmalen Skiern ausgetragen worden wäre. Noch eine Stunde vor Beginn dieses WM-Qualifikationsspiels war die Stimmung vor dem Stadion ähnlich ausflugshaft entspannt wie im Juni 2015 im portugiesischen Faro, wo die DFB-Elf der Auswahl Gibraltars begegnete (nur, dass es in Oslo selbstverständlich wärmer als in Faro war). Löws Elf aber hat der Versuchung widerstanden, sich in den Kurzurlaubs-Modus hinunterziehen zu lassen, man habe das Spiel "von A bis Z durchgezogen", sagte Müller.

Oft müssen Monate oder Jahre vergehen, um wirklich bewerten zu können, welche Auswirkungen ein großes Fußballturnier für den Gang der Dinge gehabt hat, im Fall der EM 2016 haben offenbar ein paar Wochen gereicht. Aus diesem sehr anständig bestrittenen Turnier haben sie beim DFB ein paar Lehren gezogen, die sich aus dem Mund des Teammanagers Oliver Bierhoff ziemlich scharf und sehr grundsätzlich anhörten: "Ich glaube, dass wir in den letzten Jahren zu systemverliebt und auch systemfixiert waren", sagte Bierhoff nach dem Spiel; man habe gesehen, dass man "mit einfachem Ballbesitz" nicht immer ans Ziel komme, Ballbesitzfußball könne auch mal dazu führen, "dass es aussieht wie im Handball". Das war ja aus deutscher Sicht das große Thema der EM gewesen: wie man es schafft, den zuvor sehr kunstvoll bearbeiteten Ball auch ins Tor zu bringen, vor allem dann, wenn Thomas Müller aus Versehen mal für diese Übung ausfällt.

Die Effizienz sei "das Thema der vergangenen Tage gewesen", sagte Löw nach dem Spiel in Oslo. Dementsprechend erfreut nahm er zur Kenntnis, "dass wir mit viel Tempo in die Lücken gespielt haben und im Strafraum immer mit drei, vier Mann präsent waren, die den Abschluss wollten". Bei dieser Spielweise, meinte Löw, seien "die Tore dann irgendwie fällig gewesen". Schon aus eigenem Interesse ist der Bundestrainer sehr bestrebt, diese neue, direktere Art des Spiels als logischen nächsten Schritt in der Weiterentwicklung seiner Elf zu verkaufen; ansonsten könnte man ja durchaus auf die Idee kommen zu fragen, warum die Vorgabe bei der EM nicht auch schon so gelautet hatte.

Wie so gerne nach Turnieren, bei denen die DFB-Mannschaft es wagt, nicht Erster zu werden, hat es auch diesmal eine kleine Debatte gegeben. Es ging um die Spieler und auch kurz um den Trainer, dem man je nach Geschmack dieses oder jenes unterstellte; dass er zu viele freie Tage gewährt oder zu sehr auf Bastian Schweinsteiger gebaut habe, oder dass seine Aufstellung in Viertel- und Halbfinale zu defensiv geraten sei. Das meiste davon war Geschmackssache, schwer beweisbar und mitunter parteipolitisch unterlegt, und vielleicht hat man die einzige Frage, die man diesem Trainer wirklich stellen muss, tatsächlich erst jetzt entdeckt: warum er einen Könner wie Özil nicht schon während der Wochen in Frankreich zu diesem unwiderstehlichen Direktspiel genötigt hat.

In Oslo gab es - allerdings gegen einen freundlichen Gegner - den steilsten Özil seit Jahren zu sehen; ohne schuldhaftes Zögern spuckte er jeden Ball umgehend nach vorn aus wie eine schlüssig programmierte Ballmaschine, er zog Sprints an und machte ebenso wenig Umstände wie Julian Draxler oder Thomas Müller, der dank der neuen Strafraumfixierung des deutschen Spiels seine jüngere Vergangenheit wie nebenbei bewältigte. Er habe an der Qualität seines Abschlusses "nie gezweifelt", sagte Müller nach seinen zwei Toren lässig.

"Wir haben halt viele Spieler, die gerne den Extrapass spielen, anstatt den Ball über die Linie zu bugsieren", meinte Müller später noch, das sei "eine Typenfrage und vielleicht ein kleines Problem", aber mit dem Spielstil aus Oslo könnte es Löw tatsächlich gelingen, dieses Grunddefizit seiner Elf steil zu überspielen. Er wird seine Elf künftig ein bisschen gegen ihr Naturell coachen, die Künstler sollen umweglos in den Strafraum passen oder direkt in den Strafraum sprinten, um dort die Pässe der anderen Künstler zu empfangen. Der Plan dahinter klingt einfacher, als er zu realisieren ist: Wenn Löw außer (dem diesmal angeschlagenen) Mario Gomez schon keinen echten Neuner im Team hat, dann sollen eben alle ein bisschen Neuner spielen.

© SZ vom 06.09.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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