Über Real Madrid besteht das Vorurteil, dass es sich nicht um einen Fußballklub, sondern um einen Zirkusbetrieb handelt. Hier jonglieren Artisten aus aller Welt zum Selbstzweck der größtmöglichen öffentlichen Aufmerksamkeit.
Als im vorigen Sommer der Zirkusdirektor entschied, den Artisten Mesut Özil zu verkaufen, um den obszönen Preis für den Kauf des Artisten Gareth Bale halbwegs auszugleichen, gab es allerdings Unruhe im Ensemble. Real Madrid schien mit diesem Handel das Prinzip der ständig erneuerten Attraktionen übertrieben zu haben. Den Solisten Bale für 100 Millionen Euro anzuschaffen und dafür den Fixpunkt Özil aus der Mannschaft zu nehmen - das rief bei den anderen Stars Proteste hervor.
Eine Saison später lässt sich nicht leugnen, dass sich der kapitalistische Galacticos-Transfer für Real Madrid rentiert hat - sportlich gesehen. Bale hat nach ein paar Monaten seinen Platz im Team gefunden, im finalen Saisonspiel gegen Atlético Madrid bescherte er dem Klub das Tor zum Gewinn der Champions League.
In der oft als schwarz oder weiß beschworenen Welt des Fußballs ist Mesut Özil also der Verlierer in der Manege der Stars. Beim FC Arsenal, wohin man ihn eher unfreiwillig übergesiedelt hatte, fing er gut an und machte dann schwach weiter, bis er sich eine Verletzung zuzog. Zum Schluss durfte er sich mit dem Gewinn des FA-Cups trösten. Aber was ist der englische Pokal gegen die Champions League?
Bei der Nationalmannschaft ist Özil seit dem Start in die WM-Vorbereitung allenfalls im Hintergrund in Erscheinung getreten. Im Testspiel gegen Kamerun tauchte er lediglich kurz nach dem Anpfiff in der Bildmitte auf, als er eine unbeschreiblich riesige Torchance auf unbegreiflich dilettantische Art vergab, und danach ward er nicht mehr gesehen, bis er kurz vor der Pause durch ein törichtes Foul auffiel.
Dann nahm ihn der Bundestrainer vom Platz. Vertraute von Özil bestehen jedoch nach wie vor darauf, seine schwache Leistung sei eine Art Selbstschutzstrategie gegen den robust zupackenden Gegner gewesen: "Mesut würde sich nie gegen Kamerun verletzen." Gegen Armenien war dem 25-Jährigen erhöhtes Bemühen anzusehen. Was zwar nicht allzu viel zu bedeuten hat - was aber vielseitig gedeutet wird.
Özil stand bisher in der deutschen Wahrnehmung unter Genieverdacht. Neuerdings wird er jedoch vermehrt verdächtigt, ein verhindertes Genie zu sein, dem die Kraft und der Willen fehlen, seine begnadeten Talente durchzusetzen. Bis zum vorigen Freitag haben sich die Deutschen darüber nicht so viele Sorgen gemacht - sie vertrauten darauf, dass Marco Reus an Özils Stelle treten werde, wenn dieser auch in Brasilien nur auf Katzenpfoten unterwegs sein sollte.
Aber Reus ist jetzt nicht mehr da. Und so befindet sich Özil in einer ähnlichen Situation wie sein Trainer: Wie Joachim Löw soll er bei diesem Turnier gefälligst etwas gutmachen. Bei der Bewertung der beiden wird es wohl nicht viele Zwischentöne geben. Wenn es auf neudeutsch heißt: Löw muss liefern, dann heißt es implizit auch: Özil muss liefern.