Martin Schmidt:Sagengestalt mit sieben Kreuzbandrissen

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Eigentlich immer in Trainingsklamotten unterwegs: Martin Schmidt, (Foto: Getty Images)

Downhill-Mountainbiker, Auto-Tuner, Nacktmodell: Martin Schmidt hat für einen Fußballtrainer eine ungewöhnliche Biografie. Dass sich Mainz nun in Europa behauptet, hat viel mit dem Schweizer zu tun.

Von Martin Schneider, Gelsenkirchen/Mainz

Bei Martin Schmidt verschwimmen die Grenzen zur Sagengestalt. Man weiß nicht genau, was wirklich wahr ist und was nicht, zu viele Geschichten sind über den Mainzer Trainer im Umlauf. Hat er sich wirklich sieben Mal das Kreuzband gerissen? Hält er wirklich beim Volksskirennen "Belalp Hexenabfahrt" den Streckenrekord? War er Auto-Tuner? Hat er sich mal für einen Nacktkalender ausgezogen? Und wie war das, als er nach einem Mountainbike-Rennen beinahe querschnittsgelähmt im Rollstuhl endete?

Im Mainzer Stadion sitzt Schmidt, den sie in der Schweiz Treno nannten, Kumpeltrainer, in seinen üblichen Trainingsklamotten auf einem Stuhl mit einem Kaffee in der Hand und wartet darauf, dass er den 2:1-Sieg gegen Darmstadt erklären kann. Bei kleineren Vereinen, und zu denen gehört Mainz 05 auch in der eigenen Wahrnehmung immer noch, gibt es nach Spielen neben der offiziellen Pressekonferenz Fragerunden. Der Trainer setzt sich dann hin, um ihn herum stehen im Halbkreis vor allem die Journalisten, die Mainz 05 stets begleiten, und fragen das Tagesaktuelle ab. Wieso wurde Niko Bungert so spät eingewechselt? Was war das Problem beim Gegentor? Wer ist fit für das Spiel gegen Anderlecht? Solche Fragen.

Schmidt hat Spaß daran, das Spiel zu erklären. Fast 20 Minuten spricht er. Er freut sich über das knappe Ergebnis ("Wenn wir dreinull gewonnen hätten, glauben mir die Spieler nicht, wenn ich Fehler anspreche") und schimpft über Klimaanlagen in Flugzeugen ("Immer das Gleiche, wenn die Spieler von Länderspielen kommen"). Dann hat keiner mehr eine Frage. Schmidt guckt verwundert. Sein Blick sagt: Aber es gibt doch noch was zum Spiel. Er nimmt sich das Statistikblatt: Darmstadt - 51 Prozent Ballbesitz. "Das lag an der zweiten Halbzeit, aber Ballbesitz ist nicht alles, sag ich immer", sagt er. "Hätten wir mehr Spielaufbau gemacht, wäre es noch schief gegangen", sagt er, halb zu sich selbst, halb zu den Journalisten.

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Dass Mainz sogar Anderlecht ärgert, hat viel mit Schmidt zu tun

Vier Tage später holt Mainz 05 ein 1:1 gegen den RSC Anderlecht und ist damit in der Europa League weiter ungeschlagen. Schmidt ärgert sich über das Gegentor, über einen Abwehrfehler, weil der Torschütze nicht richtig "übergeben" wurde, wie es heißt, wenn erst der eine Abwehrspieler deckt und dann der andere.

Martin Schmidt geht nun in seine zweite komplette Saison bei Mainz, und dass dieser kleine Klub sich über ein 1:1 gegen den Königlichen Sportklub Anderlecht im Europapokal ärgert, hat sehr viel mit dem 49-Jährigen aus dem Wallis zu tun.

Um die Einstiegsfragen aufzulösen: Es ist nicht alles wahr, was man über Schmidt erzählt. Den Streckenrekord bei der Hexenabfahrt hält er zum Beispiel nicht, den hält sein Schwager. Aber es stimmt erschreckend viel: die sieben Kreuzbandrisse (drei rechts, vier links; drei beim Fußball, zwei beim Skifahren, zwei beim Mountainbike-Downhill). Und die Sache mit dem Nacktkalender stimmt auch, das war natürlich für einen guten Zweck. Auf einem der Fotos steht Schmidt vor einer Taktiktafel.

Es ist auch richtig, dass er sich bei einem Mountainbike-Downhill-Rennen zwei Halswirbel-Fortsätze gebrochen hat. Weil es ein Team-Rennen war, fuhr er nach dem Sturz noch weiter, sackte im Ziel zusammen und spürte seine Beine nicht mehr. Irgendwann stellten die Ärzte fest, dass die Lähmung von der Schwellung kam und nicht aus dem Rückenmark. Schmidt trug Halskrause und erholte sich.

Schmidt wurde Trainer in Mainz, weil er Tuchel auscoachte

Mit dieser Biografie fing Schmidt irgendwann an, Fußballtrainer zu werden. Beinahe von einem auf den anderen Tag hatte er am Autoschrauben (er besaß eine Werkstatt und arbeitete als Mechaniker bei der Deutschen Tourenwagenmeisterschaft) keine Lust mehr. Er wurde Assistenztrainer. Zuvor hatte er maximal in der zweiten Schweizer Liga gekickt. Zum FSV Mainz 05 kam er, weil er Thomas Tuchel besiegte.

Schmidt war Trainer der U21 des FC Thun, die Mannschaft spielte im Frühjahr 2009 ein Turnier im schwäbischen Ergenzingen. Thun kam ohne Gegentor ins Finale gegen die von Tuchel trainierte Mainzer A-Jugend. Schmidt spielte im ungewöhnlichen 3-5-2-System und schlug Mainz 6:4 im Elfmeterschießen. Von da an hatte Tuchel seinen Namen im Kopf. Als er selbst Cheftrainer wurde, holte er Schmidt nach Mainz, um die U23 zu coachen. Als der Däne Kasper Hjulmand nicht erfolgreich war, übernahm Schmidt im Februar 2015 den Job. Auch weil seine Art des Fußballs in der guten Mainzer Tradition von Jürgen Klopp und Thomas Tuchel steht.

Schmidts Fußball ist klarer Konterfußball. Er ist so klar, dass er sich in allen Zahlen ablesen lässt. Mainz hat nach Darmstadt und Berlin den wenigsten Ballbesitz der Liga, sie spielen die zweitmeisten Fehlpässe (nach Darmstadt), weil sie versuchen, die Konter möglichst schnell abzuschließen. Sie halten sich von allen Bundesligateams am häufigsten im sogenannten "hintersten Drittel" des Spielfeldes auf, weil sie das Feld zum Kontern vor sich brauchen. Sie greifen nach Gladbach am häufigsten über die Außenbahnen an und wollen - Schmidts persönliche Lieblingsstatistik - das laufstärkste Team der Bundesliga sein. Vergangenes Jahr haben sie das geschafft.

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Diese Zahlen mag Schmidt, er wirft sie immer mal wieder in Interviews ein, nach dem 1:1 gegen Anderlecht sagte er, dass die Zweikampf- und Laufwerte "klar auf unserer Seite waren". Das Training wird quantifiziert, wo es geht, Schmidt besitzt eine Trainingsdatenbank zu Sprint- und Passübungen. Er hält das für selbstverständlich. Die Trainingswissenschaft sei heute so weit, da könne man im Vergleich zur Konkurrenz eher wenig rausholen, sagte er einmal. Im persönlichen Bereich sei das anders.

In der Mainzer Kabine hängen Fotos von einem Ausflug der Mannschaft im Wintertrainigslager. Schmidt ließ sein Team in seiner Heimat Schneewandern auf 3000 Meter Höhe, das Team übernachtete im Zelt, der Kolumbianer Jhon Cordoba sah zum ersten Mal überhaupt Schnee. Das erzeuge "Bilder im Kopf", sagt Schmidt, und binde die Mannschaft zusammen. Solche Kniffe mag er offenbar im Großen wie im Kleinen. In einem Interview mit der Zeit verriet er: Vor dem Spiel gegen Bayern München in der vergangenen Rückrunde zeigte er seiner Mannschaft gute Konter von Ingolstadt, schöne Spielzüge des VfL Bochum und ein Tor von Darmstadt 98 gegen die Bayern. Botschaft: Wenn die das können, können wir das auch. Mainz gewann 2:1.

Eigentlich ist Schmidts Weg vorgezeichnet. Klopp wurde BVB-Trainer, Tuchel wurde BVB-Trainer, Schmidt selbst sagte aber mal im Aktuellen Sportstudio, in Gelb sähe er komisch aus. Alle seine bisherigen Klubs hatten die Vereinsfarben rot und weiß. In Deutschland gibt es aber nur einen rot-weißen Klub, der in den vergangenen Jahren konstant besser war als Mainz 05. Würde Schmidt irgendwann nach München wechseln, würde er zumindest in seiner Heimat wirklich zur Sagengestalt werden.

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