Leon Goretzka:Sein Herz gehört dem VfL Bochum

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Zukünftige Konkurrenten im Bayern-Mittelfeld: Der Schalker Leon Goretzka, 23, duelliert sich im Hinspiel mit Sebastian Rudy. (Foto: Jürgen Fromme/firo Sportphoto)
  • Beim Spiel FC Schalke 04 gegen FC Bayern stellt sich Leon Goretzka seinem künftigen Publikum vor.
  • Buhrufe aus den Kurven drohen ihm wohl nicht, auch Schalke-Trainer Domenico Tedesco sieht Goretzka weiter als Führungskraft seines Teams.
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Von Philipp Selldorf, Gelsenkirchen

Weltanschauliche Parolen am Zaun vor den Fankurven gehören zur ständigen Ausstattung der Bundesliga-Stadien und geben regelmäßig Anlass zu Debatten, aber selten hat eine ideologische Kampagne so viel Aufsehen erregt wie der Willkommensgruß der Bayern-Anhänger an Manuel Neuer vor sieben Jahren. Neuer war noch längst kein Bayern-Profi, da hat ihm der harte Kern der Münchner Szene schon eine Widmung geschickt - mit tausendfach verbreiteten "Koan Neuer"-Bekenntnissen. In orthodoxen Kreisen hielt man den aus Gelsenkirchen-Buer stammenden Neuer, der als Vierjähriger dem Verein beigetreten war, für einen unverbesserlichen Schalker.

Auf diese Idee werden nun im Fall Leon Goretzka weder die Bayern- noch die Schalke-Fans kommen. Die Überschrift "Leon, der Profi", die schon in vielen Porträts über sein Fußballerleben zu lesen war, ist nicht nur eine Anspielung auf den gleichnamigen Kinofilm, sondern eine korrekte Definition seines Selbstverständnisses. Als Profi hat er entschieden, ab dem Sommer lieber für den FC Bayern zu spielen, als seinen Vertrag mit Schalke zu verlängern. Königsblau war darüber eine Weile zornig, doch von den anfangs mit Pfiffen ausgetragenen Kundgebungen ist nicht mehr viel übrig geblieben.

Wenn Goretzka nun an diesem Samstagabend mit Schalke beim FC Bayern antritt, dann drohen ihm aus keiner Kurve Proteste. Tatsächlich ist er weder schuldig, ein Schalker zu sein, noch schläft er seit dem ersten Schuljahr in Bayern-Bettwäsche. In Wahrheit gehört sein Herz dem VfL Bochum, dem Klub seiner Heimatstadt und Kindertage. Neulich wurde er beim Montagabend-Spiel gegen Bielefeld (0:1) in der VIP-Zone gesichtet - an der Seite seines Mitspielers Max Meyer und im Beisein von großen Bochumern wie Martin Kree und Michael "Ata" Lameck.

Seinem alten Verein wolle er "etwas zurückgeben" hat Goretzka vor einiger Zeit erklärt, aber der Drang zur Dankbarkeit war dann doch nicht so groß, dass er zugunsten des VfL Bochum den Umzug aus dem Ruhrgebiet in die weite Fußballwelt um ein Jahr verschieben mochte. Hätte Goretzka in Gelsenkirchen verlängert und wäre dann eines Tages gegen Ablöse zu einem anderen Klub gegangen, dann hätte an der - hohen - Summe nicht nur Schalke, sondern auch der VfL verdient. Ein paar Millionen Euro wären da wohl, bedingt durch eine Klausel aus dem Wechselgeschäft von 2014, herausgesprungen.

Doch nicht nur Profis müssen an sich selbst zuerst denken, sondern auch die Trainer von Profiklubs. Im ersten Affekt waren die Schalker Klubgewaltigen über Goretzkas Absage so sauer, dass sie ihn am liebsten verkauft oder verbannt hätten. Man fühlte sich "verladen", nachdem man im vorigen Sommer bereits Vorbereitungen getroffen hatte, das Jawort zur Vertragsverlängerung feierlich den Mitgliedern zu präsentieren. Doch als Leon, der Profi, seinen Beschluss vor drei Wochen publik machte und bis hin zum Oberhaupt Clemens Tönnies heftige Reaktionen auslöste, nahm ihn Trainer Domenico Tedesco quasi demonstrativ in die Startelf auf. Das erleichterte es Goretzka, die ersten Schmähungen zu ertragen.

Heute sagt er: "Ich fand's in Ordnung, dass die Fans ihren Unmut geäußert haben. Alles andere wäre auch verwunderlich gewesen." Zumal sich die Lage danach "super entwickelt" habe, wie er meint: "Ich freue mich extrem, dass die Unterstützung wieder da ist." Darauf habe nicht nur er gehofft, sondern auch die Mannschaft und "der ganze Verein". Am Ende ist es ein Geschäft im beiderseitigen Interesse: Goretzka soll Schalke in die Champions League verhelfen, Tedesco und Schalke sollen ihm die Bewerbung für den WM-Kader ermöglichen.

Domenico Tedesco hat den Fall von Anfang an nicht unter dem Eindruck von Emotionen betrachtet, sondern nach dem Nutzen, den Goretzka noch bieten kann. Der Trainer sieht den 23-Jährigen weiter als Führungskraft seines Teams. "Leon kommt immer besser in Fahrt", sagte Tedesco am Freitag, "er freut sich auf das Spiel und brennt auf die Aufgabe, er weiß, dass er im Fokus steht, aber das motiviert ihn noch mehr, weil große Aufgaben ihn pushen." Zuletzt brauchten die Beobachter allerdings den geschulten Spezialistenblick, um das besondere Vermögen des Nationalspielers zu erkennen. Ob die Probleme, sein dynamisches Spiel zu entfalten, auf die Verletzung zurückgingen, die ihn monatelang beschäftigt hatte, oder auf die Belastungen rund um den Wechsel, weiß er wohl nicht mal selbst zu deuten.

In München wird sich Goretzka am Samstag aber steigern müssen, um sein künftiges Publikum zu beeindrucken. Beim Pokalspiel gegen Wolfsburg bestand seine Präsenz lange Zeit eher in körperlicher Anwesenheit, erst später wurde es besser. Sollten Arturo Vidal, Corentin Tolisso oder Thiago die Partie im Fernsehen verfolgt haben, dürften sie beruhigt zu Bett gegangen sein - dieser neue Bayern-Kollege würde ihnen den Platz im Mittelfeld kaum streitig machen. Jupp Heynckes warnte Goretzka schon mal vor dem erhöhten "Anspruchsniveau" in München - es sei "eine andere Welt".

Aber gemütlich will er's ja auch nicht haben. Goretzka ist nicht nur Profi, weil er das Geschäft versteht, sondern weil er großen sportlichen Ehrgeiz hat. Den Auftritt in München sieht er nun als Herausforderung, nicht als Risiko. "Bayern ist die beste Mannschaft in Deutschland. Es wird ein ganz spezielles Spiel, sich da mit den Besten messen zu können", sagt er.

Der Fan, dem er besonders imponieren möchte, ist der Bundestrainer. So oder so ist es aber extrem unwahrscheinlich, dass Jogi Löw vor der WM ein Schild präsentiert, auf dem "Koan Goretzka" steht.

© SZ vom 10.02.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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