Leichtathletik-Präsident Sebastian Coe:Shakespeare im Wartestand

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Sebastian Coe wurde zweimal Olympiasieger über 1500 Meter (hier rechts im Duell mit seinem Dauerrivalen Steve Ovett, links) und seit 2015 Präsident des Leichtathletik-Weltverbandes. (Foto: imago sportfotodienst; imago/imago sportfotodienst)

Sebastian Coe wird mit überwältigender Zustimmung in seine dritte Amtszeit als Präsident des Leichtathletik-Weltverbands geschickt. Doch der Brite hat längst das höchste Amt im Weltsport im Blick - das des IOC-Chefs.

Von Johannes Knuth, Budapest

Manchmal wünscht man sie sich ja doch alle ein wenig zurück. Lamine Diack etwa, den verstorbenen, rechtskräftig verurteilten einstigen Präsidenten des Leichtathletik-Weltverbands, der bei den Kongressen schon mal vertraulich gemeinte Anweisungen ins Mikrofon brabbelte. Oder Pierre Weiss, den früheren Generalsekretär des Verbands, der die Delegierten 2011 in Daegu singend zum analogen Urnengang aufrief, nachdem das elektrische Stimmsystem mehr abgegebene Stimmen als anwesende Wähler angezeigt hatte. Guter, alter Leichtathletikwahnsinn.

Als Sebastian Coe am Donnerstag beim Kongress in Budapest in seine dritte und letzte Amtszeit an der Spitze des Weltverbands geschickt wurde, hatte der 66 Jahre alte Brite sowohl Plenum als auch Abläufe im Griff. Er führte, wie immer, so geschmirgelt durchs Programm, als moderiere er einen Werbespot fürs neue Ferienresort an der griechischen Nordwestküste. Er zog sich mit seinen angeblich langatmigen Vorträgen selbst auf. Er fühlte sich "außerordentlich geschmeichelt", dass ihn 192 der 195 Delegierten im Amt bestätigten (wobei sich im Gegensatz zu 2019 flegelhafterweise drei Verbände enthielten). Thomas Bach, der heutige Präsident des Internationalen Olympischen Komitees (IOC), hatte Coe auch wegen dieser geschmeidigen Art einst den Spitznamen Shakespeare verliehen. 1981 war das, als Juan Antonio Samaranch, der eiserne IOC-Patron, Athletensprechern wie Coe und Bach gestattete, beim olympischen Kongress in Baden-Baden zu sprechen. Gute, alte Olympia-Autokratie.

Ausgangspunkt zweier außergewöhnlichen Karrieren: Thomas Bach (links) und Sebastian Coe (mittig) beim olympischen Kongress 1981 in Baden-Baden. (Foto: Laci Perenyi/Imago)

Es war auch die Zeit, in der Coe und Bach die Schienen verlegten, auf denen ihre sportpolitischen Karrieren ins Rollen geraten sollten. Bach, ein Meister des Fintierens und Kenner von Paragrafen (was ihm von Coe den Spitznamen Professor einbrachte), rauschte darauf 2013 ins Amt des IOC-Präsidenten. Und Coe, diese Anzeichen verdichten sich, könnte Bach nun ablösen, wenn dessen Amtszeit 2025 endet, auf dem Papier zumindest.

Eine Weile sah es gar nicht danach aus, denn als Coe 2015 ins höchste Leichtathletikamt gehievt wurde, breitete sich vor ihm ein gigantischer Sumpf aus. Diack und sein Sohn Papa Massata hatten etwa fleißig Geld aus dem Sport abgeschöpft, unter anderem von russischen Athleten, die positiv getestet worden waren und dank eines mutmaßlichen Ablasshandels weiter starten durften.

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Bald hing auch Coes sportpolitische Karriere an ganz schön dünnen Fäden, denn der Lord hatte große Mühe, sich von den Machenschaften seines einstigen "geistigen Führers" Diack zu distanzieren. Coe war im Sommer 2014 eine E-Mail zugespielt worden, also lange bevor er von dem ganzen Skandal erfahren haben will. Aus den Anhängen ging hervor, wie unter den Diacks eine russische Marathonläuferin erpresst worden sein soll. Die Anhänge habe er an die damaligen Ethikwächter des Verbands weitergeleitet, ohne sie zu lesen, behauptete Coe vor dem britischen Sportausschuss. Der klassifizierte diese Ausführungen als "irreführend". Ein schmeichelhaftes Urteil.

Russlands Leichtathleten bleiben wegen des Ukraine-Überfalls gesperrt - vorerst

Am Ende entzünde sich ja alles bloß an der Frage, wie er seine Mails lese, versuchte Coe die Sache wegzuscherzen - mit Erfolg. In der Folge profilierte er sich, welch Zufall, als einer der wenigen Weltverbandspräsidenten, die gegen Russlands Umtriebe ernsthaft vorgingen. Der russische Leichtathletikverband war bis zuletzt wegen des tiefwurzelnden Dopingsystems gesperrt, anders als in anderen Fachverbänden. Und als die meisten dieser Verbände zuletzt brav der IOC-"Empfehlung" folgten, Athleten aus Russland und Belarus im Weltsport zu resozialisieren, ließen Coes Leichtathleten die nächste Schranke fallen: Weil beide Länder in der Ukraine einen Vernichtungskrieg führen, bleiben ihre Athleten gesperrt. Wobei Coe in Budapest nicht ausschloss, dass sich das noch vor den Spielen 2024 in Paris ändern könnte.

Jeder der weiß, wie allergisch Bach auf alle reagiert, die nicht stramm seinem, nun ja, Rat, folgen, kann erahnen, weshalb Coe erst 2020 Mitglied im IOC wurde, fünf Jahre nach seiner Krönung bei den Leichtathleten. Sollte er nun 2025 doch für Bachs Nachfolge kandidieren, wäre er 69 - IOC-Mitglieder dürfen derzeit höchstens 70 Jahre alt sein -, aber solche Paragrafen lassen sich im organisierten Sport meist flott zurechtbiegen.

2025 könnte Sebastian Coe IOC-Präsident werden. (Foto: Bernadett Szabo/Reuters)

Und Coe ist offenkundig gewillt, das ist nicht nur aus der Leichtathletikgemeinde zu vernehmen. Zwar beteuerte er zuletzt wiederholt, er habe sich damit noch gar nicht beschäftigt, das könne man ihm glauben oder nicht (Empfehlung des Hauses: besser nicht!). Aber ausschließen wollte Coe die Kandidatur auch in Budapest nicht, und viele seiner Interviews klangen zuletzt schon wie eine Initiativbewerbung: Das IOC habe das Potenzial, eine außergewöhnliche Organisation zu sein, es müsse aber "autonom und unabhängig" bleiben und sich des Spagats bewusst werden, "dass wir durch eine höchst komplizierte politische Landschaft segeln müssen, ohne unseren moralischen Kompass zu verlieren". Frei übersetzt: So in etwa wie sein Verband das tue.

Das konnte man durchaus als Spitze Richtung Bach deuten. Wenn das IOC unter Bach ja einen Eindruck nicht widerlegt hat, dann dass es autonom von Interessen ist, vor allem von russischen.

Auf Augenhöhe mit dem Hochadel: Sebastian Coe (links) und Königin Elizabeth II. (rechts) bei den Olympischen Spielen 2012 in London, die Coe federführend organisierte. (Foto: Ulmer/Imago)

Coe ist freilich einer, der nicht zurückstecken muss, wenn es darum geht, aalglatt durch die Welt des organisierten Sports zu gleiten. Einer, der Londons Olympiasause 2012 organisierte, deren Hinterlassenschaft heute so umstritten ist wie nach vielen Spielen; der sich noch dann vom Sportartikelkonzern Nike als Berater entlohnen ließ, als er Weltverbandspräsident war; der dem Verband dringende Reformen verpasste, unter andere eine ernsthaft arbeitende Anti-Doping-Agentur (und der zugleich brisante E-Mail-Anhänge überlesen haben will); der Härte gegen Russland zeigt, dann wiederum auf die "komplexe Welt" verweist, wenn er auf den politisch auch nicht unproblematischen Standort Ungarn angesprochen wird, wo am Samstag die WM-Wettkämpfe beginnen.

Man darf davon ausgehen, dass auch Thomas Bach so seine Pläne hat. Dass er sich, entgegen den derzeitigen Regularien, eine weitere IOC-Amtszeit gönnen könnte, ist derzeit zwar unwahrscheinlich. Dafür mehren sich die Indizien, dass er nichts gegen eine IOC-Präsidentin hätte, die erste Frau an der Spitze des Olymps. Aber auch Coe hat sich seine Qualitäten bewahrt: die Wortgewalt, die Kunst des Bluffs und, wie früher auf der Mittelstrecke, ein veritables Stehvermögen.

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