Leichtathletik-WM:Einfach dran glauben

Lesezeit: 4 min

Die US-Amerikanerin Dalilah Muhammad überfliegt alle Hürden, Mutaz Essar Barshim macht die Katarer zu Eintagesfans. Geschichten aus Doha.

Von Saskia Aleythe und Johannes Knuth, Doha

Pascal Martinot-Lagarde ist jemand, der sich aus der ganzen Palette bedient, die ihm seine bildhafte französische Sprache bietet. Und so sagte der 28-Jährige, nachdem er über 110 Meter Hürden endlich eine WM-Medaille gewonnen hatte: "Diesmal musste ich nicht die Schokoladenmedaille schlucken" - wie nach vielen vierten und fünften Plätzen zuvor. Dabei hatte er schwer in die Saison gefunden, ähnlich wie Weltmeister Grant Holloway (USA) und der Russe Sergej Schubenkow, der Silber gewann. "Aber heute waren wir hungrig", sagte Martinot-Lagarde - auf echte Medaillen, nicht auf Schokolade. Und so lief er dann auch. Hungrig, aber besonnen. Behielt die Ruhe, als Omar McLeod dem Spanier Orlando Ortega vor die Füße stolperte, der wohl sonst statt Martinot-Lagarde Dritter geworden wäre. Später, nach Protesten, sprach die Jury auch Ortega Bronze zu. "Dieses Rennen", fand Martinot-Lagarde, "ergibt keinen Sinn. Sport ergibt keinen Sinn." Eine schöne Überschrift für diese Leichtathletik-WM. Ein paar internationale Anekdoten zum Abschluss:

Herzlicher Helfer

Bevor Jonathan Busby hinter der Ziellinie zu Boden ging, stoppte er noch seine Zeit. Eine rührende Handlung, schließlich hatte der Mann von der Karibikinsel Aruba mit ganz anderen Problemen zu kämpfen. Im Vorlauf über 5000 Meter überkam ihn auf der letzten Runde plötzliche Schwäche, er brach fast zusammen, stolperte mit nach vorne gebeugtem Oberkörper über die Bahn. Ein Anblick, den sein Konkurrent Braima Suncar Dabo nicht ertrug: Er griff Busby unter dem Arm und schleppte ihn die letzten 200 Meter ins Ziel. "Jeder in meiner Situation hätte das gleiche getan", sagte der Sportler aus Guinea-Bissau später, seine eigene Leistung hatte ihn zu dem Zeitpunkt nicht mehr gekümmert. "Er ist der tollste Mann mit dem größten Herzen", sagte Busby dankbar. Und wurde vom Leichtathletik-Weltverband später disqualifiziert, weil er "unerlaubt Hilfe" angenommen hatte. Wären sie bei der Vergabe mancher Leichtathletik-Großereignisse doch auch so konsequent gewesen.

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(Foto: Mustafa Abumunes/AFP)

Freiwillige und unfreiwillige Hauptdarsteller: Katars Gold-Springer Barshim...

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(Foto: Andrej Isakovic/AFP)

... der hilfsbereite Läufer Dabo stützt den erschöpften Konkurrenten Busby.

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(Foto: Ibraheem Al Omari/Reuters)

Die Chinesinnen Lingwei Kong und Manqi Ge beim verpatzten Staffel-Wechsel.

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(Foto: David J. Phillip/AP)

Hürden-Weltrekordlerin Dalilah Muhammad feiert ihre Bestzeit.

Schnelle Krankenschwester

Vielleicht dachte Roberta Groner, dass sie in ihrem Leben schon alles mitgemacht hat. Sie hat drei Kinder aufgezogen, arbeitet längst als Krankenschwester in Vollzeit, nebenbei trainierte die Amerikanerin zuletzt für ihren ersten WM-Marathon überhaupt - mit 41 Jahren. Und dann kam Groner nach Doha, und wurde von 32 Grad und fast 74 Prozent Luftfeuchtigkeit begrüßt. Viele Läuferinnen, die ihr ganzes Leben dem Sport verschrieben hatten, gaben auf. Groner? Kam beim Marathon um Mitternacht als Sechste ins Ziel. "Das war der brutalste Marathon, den ich jemals gelaufen bin", sagte sie. 2:38:44 Stunden währte er, neuneinhalb Minuten über ihrer Bestzeit - aber da erging es den Besten wie Siegerin Ruth Chepngetich auch nicht anders. Groner war jedenfalls bestens vorbereitet gewesen, sie trank viermal so viel Wasser wie sonst, die Flasche immer in der Hand. Auch die Hitzepille hatte sie geschluckt, mit der der Weltverband in Doha erforschte, wie Läufer auf extreme Hitze reagieren. Groner hatte sich umgehend für das Projekt gemeldet: "Ich bin doch eine Krankenschwester!", erklärte sie.

Verwirrte Wechselspiele

Chinas Frauenstaffel ist jetzt vielleicht so berühmt wie nie zuvor. Ihr Wechsel im Finale über 4x100 Meter verlief, gelinde gesagt, suboptimal. Ein Einblick in die ungefähre Gedankenwelt der letzten beiden Läuferinnen, Lingwei Kong und Manqi Ge; Schlussläuferin Ge: "Oh Gott, wir haben die Wechselzone verpasst! Behalt du den Stab, wir laufen zurück." Joggend geht es in die entgegengesetzte Richtung, wieder hinein in die Wechselzone, während Jamaika bereits dem Titel entgegen stürmt. Schlussläuferin Ge: "Hier sieht es gut aus. Oder? Nee, doch nicht." Wieder joggen sie ein paar Meter nach hinten, im Ziel posieren die zweitplatzierten Britinnen jetzt für die Fotografen. Schlussläuferin Ge: "Jetzt gib mir doch endlich den Stab!" Der Stab wechselt die Hände, Ge rennt ein paar Schritte, dreht sich aber nochmal um. Läuferin Kong: "LAUUUUUUF!" Ge nimmt Fahrt auf und kommt tatsächlich noch ins Ziel. Disqualifiziert wurden die Chinesinnen später trotzdem.

Neue Zeiten, alte Zeiten

Manchmal ist die Vielfalt der Leichtathletik ihre größte Stärke und Schwäche zugleich. Dann entfachen die Athleten an einem Abend ein Gewitter aus Leistungen, in dem manche Tat fast in Vergessenheit gerät. Die 400 Meter der Frauen zum Beispiel waren am letzten WM-Wochenende fast schon wieder verblasst. Dabei hatte Salwa Eid Naser, 21, aus Bahrain in 48,14 Sekunden fast Marita Kochs DDR-Weltrekord aus den Fugen gehoben - jene 47,60 Sekunden, die seit 1985 wie ein Mahnmal für eine chemieverseuchte Ära in der Landschaft stehen. Oder die 4x100-Meter der Männer: Die fielen diesmal in 37,10 Sekunden an die USA, die auch ein, nun ja, interessantes Ensemble aufboten: Justin Gatlin (zwei Dopingsperren), Michael Rodgers (eine Sperre), Christian Coleman (drei verpasste Dopingtests, Sperre gerade noch vermieden), Noah Lyles. Oder das Kugelstoßen der Männer: Da gewann der Amerikaner Joe Kovacs mit 22,91 Metern vor seinem Landsmann Ryan Crouser (22,90) und dem Neuseeländer Tom Walsh (22,90). Manche aus der neuen Generation erinnerten in Doha ganz schön an alte Zeiten.

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Kommentar von Saskia Aleythe, Doha

Der kürzeste Jubel

Der Jubel über die bis zum Schlusstag gewichtigste Leistung dieser WM war auch einer der kürzesten. Die Amerikanerin Dalilah Muhammad hatte über 400 Meter Hürden gerade noch die Attacke ihrer Landsfrau Sydney McLaughlin pariert: 52,16 Sekunden für die neue Weltmeisterin, 52,23 für die Zweite. Die Zuschauer brauchten etwas Nachhilfe, ehe sie begriffen, welches Schauspiel da erblüht war: "World Record", flimmerte es auf der Anzeigetafel, es war bis zum Sonntag der einzige in Doha. Aber der schrille Jubel erlosch sofort wieder, Mutaz Essar Barshim, die große Hoffnung der Kataris im Hochsprung, machte sich gerade für seinen nächsten Versuch bereit. Und so brach Muhammad etwas verloren auf ihre Ehrenrunde auf. Nicht, dass es ihr viel auszumachen schien: Sie hatte Ende Juli bereits den Weltrekord der Russin Julija Petschonkina unterboten (52,34), damals mit 52,20. Der Bauplan war damals derselbe wie in Doha: "Ich sollte nur rausgehen und daran glauben", habe ihr der Trainer gesagt. Ergibt Sinn.

Der längste Tag

Die Spur, dass etwas Größeres in der Luft lag, zog sich bis vors Stadion: Betonstau! Vor dem Khalifa-Stadion, in das sich in den ersten Tagen so viele Zuschauer verirrt hatten wie in einen Streichelzoo bei Wintereinbruch. Aber nun, am vergangenen Freitag, waren 42 000 Zuschauer gekommen, um zu bezeugen, wie Mutaz Essar Barshim den ersten und einzigen Titel dieser WM für Katar erobern würde, Frauen und Männer, Schulkinder und Gastarbeiter. Sie bejubelten schon das Einspringen, sie zitterten, als er 2,33 Meter erst im dritten Anlauf schaffte, sie brachten das Stadion zum Vibrieren, als der 28-Jährige über 2,37 Meter segelte. Weltmeister! "Ich konnte in ihren Augen sehen, wie begeistert sie waren", sagte Barshim später. Das hätte er freilich auch mit geschlossenen Augen feststellen können. Und nun, alle Kraft voraus Richtung Olympia 2020? Nein, sagte Barshim, er wolle jetzt erst mal "so viel wie möglich essen, fett werden und Urlaub machen".

© SZ vom 07.10.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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