Im Oktober flüchten Leichtathleten für ein paar Wochen hinaus aus ihrem Sportlerleben in eine andere Welt. Eine Welt ohne Trainingszeiten und fixe Pläne für den Tag, Oktober ist Urlaubszeit, und im vergangenen Jahr, da war Malaika Mihambo mit dem Rucksack in Indien unterwegs. Sie ist viel gewandert, hat Yoga gemacht und die Leidenschaft fürs Meditieren entdeckt. Etwas, das ihr bis heute geblieben ist; dass die zehrende Saison überdauert hat, sie musste sich ja weiter konzentrieren bis zu dieser ungewöhnlich späten WM in Doha. "Es hilft einem, sich zu fokussieren und einfach gelassen zu bleiben", sagte Mihambo übers Meditieren vor ihrem Finale im Weitsprung am Sonntagabend. Und im Prinzip gab es ja auch nur diesen einen Störfaktor, der ihr die Gold-Medaille vermiesen konnte: Dass ihr nun, als Weltbeste des Jahres und Favoritin auf den Titel, im entscheidenden Moment die Knie weich werden.
Weich wurden sie tatsächlich, allerdings vor Glück.
Mit einem Sprung auf 7,30 Meter sicherte sich Malaika Mihambo Gold; der dritte Sprung war der zum Titel, 26 Jahre nach der letzten Gold-Medaille durch Heike Drechsler. Mihambo konnte sich entspannen, ihre neue Bestweite sorgte für den größten Vorsprung der WM-Geschichte, für Maryna Bech-Romantschuk aus der Ukraine (6,92) und Ese Brume aus Nigeria (6,91) ging es nur noch um Silber und Bronze. "Es wird der beste Sprung meines Lebens bisher gewesen sein und einer, an den man nicht mehr heran kommt vielleicht", sagte Mihambo im ZDF, sie war "unfassbar glücklich", dass sie ihre starke Form aus den Monaten zuvor nun auch bei der WM präsentieren konnte.
Der dritte Versuch, das ist so eine Sache bei Mihambo
Den ersten Sprung nahm sie noch mit ziemlich großen Sicherheitsabstand zum Brett, zwei Füße hätten noch dazwischen gepasst, 6,52 Meter, sie guckte zerknirscht. "Die richtige Freude kommt, wenn der Wettkampf sehr gut läuft und man auch das zeigt, was man drauf hat", hatte Mihambo vorab gesagt, doch Spaß machte auch der zweite Versuch noch nicht: Diesmal übertrat sie das Brett mit dem halben Fuß. Dann wurde es schon brenzlig, Mihambo musste sich steigern, um im Finale zu sein. "Ich habe mir gedacht, der muss gültig sein, egal was kommt", sagte sie später. Und es zeigte sich, wie weit es gehen kann, wenn man den Absprung gut erwischt: Im dritten Versuch landete sie erst bei 7,30 Meter in der Grube. Mihambo flitzte vor Freude die Bahn hinunter, die Konkurrentinnen um die Medaillen umarmten sie noch im Wettkampf. Und es wurde dann klar, wie heikel dieser dritte Sprung war: Mit 6,52 Metern hätte sie ihre Tasche packen müssen.
Der dritte Versuch, das ist so eine Sache bei Mihambo: Schon im vergangenen Jahr bei der EM in Berlin wäre die 25-Jährige ohne eine Steigerung draußen gewesen - dann holte sie trotzdem noch Gold. Und in diesem Jahr sprang sie ja so weit wie keine andere, sechs Mal über sieben Meter vor diesem Finale, Bestmarke 7,16 Meter. Es war ein Klassenunterschied zur Konkurrenz. "Ich weiß, dass ich das schaffen kann", sagte sie zu ihrem erneuten Kontern nun bei der WM, "ich habe da das Selbstvertrauen und das zurecht."
"Aus welchem Sumpf ich mich herausgezogen habe und hier trotzdem wieder Bronze hole, das ist schon Wahnsinn"
Mihambo war nun in Doha schon in ihren gelebten Goldtraum versunken, auch den fünften und sechsten Versuch hatte sie über sieben Meter gesetzt, da starteten dann die Speerwerfer in ihr Finale. Auch für sie war es der Höhepunkt einer langen Saison, "im Oktober liegt jeder Athlet normalerweise am Strand und schlürft gemütlich sein Bier", hatte Johannes Vetter gesagt. Der Weltmeister von 2017 vertreibt seine Zeit dann doch anders als Mihambo. Am letzten Tag der WM hatte aber auch er etwas zu feiern: Mit 85,37 Metern klappte es für den 26-Jährigen mit Bronze.
Der erste Speer, der im Khalifa-Stadion seine Hand verlassen hatte, segelte nicht mal über die 80-Meter-Marke, der zweite brachte ihn dann in die Medaillenränge. Er verbrachte den Abend auf dem Bronzerang, im vorletzten Versuch verletzte sich Magnus Kirt aus Estland und musste von der Anlaufbahn abtransportiert werden, gewann auf der Krankenliege Silber (86,21 Meter). Anderson Peters aus Grenada (86,89) wurde Weltmeister. In der Qualifikation waren Vetter noch 89,65 Meter gelungen, "damit hätte ich heute hier Gold gewinnen können", sagte der Deutsche im ZDF, war aber trotzdem glücklich: "Aus welchem Sumpf ich mich herausgezogen habe und hier trotzdem wieder Bronze hole, das ist schon Wahnsinn."
Mit maladen Gliedern war Vetter zur WM gereist, schon seit einem Jahr hat er Probleme. "Mein Körper ist in diesem Jahr mein größter Gegner", hatte Vetter gesagt, nach der WM soll er operiert werden. Der linke Fuß plagt ihn, auf ihm lastet beim Abwurf das zehnfache Körpergewicht. Olympiasieger Thomas Röhler und Andreas Hofmann, EM-Zweiter von 2018, scheiterten überraschend in der Qualifikation. Sie alle hadern mit einer langen Saison, mit ihren Körpern oder technischen Fehlern. Jetzt steht der Urlaub an, übrigens auch für Julian Weber: Der war erst auf den letzten Drücker ins Team für Doha gerutscht, weil Bernhard Seifert aufgrund von Formschwäche auf seinen Startplatz verzichtet hatte. Weber kam mit 81,26 Metern auf Rang sechs, nun war für alle endlich: Oktober, Erholungsmonat.