Kritik an Mario Gomez:Ein Stürmer darf auch mal ein Tor schießen

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Mehmet Scholl findet, Mario Gomez habe sich beim Sieg gegen Portugal beinahe "wund gelegen". Obwohl der Stürmer für den Sieg der Nationalelf gegen Portugal gesorgt hat, herrscht nun die Diskussion, welche Aufgaben er eigentlich hat. Dabei gilt doch unverändert: auch ein moderner Stürmer darf hin und wieder einen Treffer erzielen. Weshalb sich Scholl für seine Beleidigung bei Gomez entschuldigen sollte.

Jürgen Schmieder

Es war ein böser Brief, den ein Fußballfan aus Kiel an die deutsche Nationalelf schickte: "Sie sind ein Lump und ein Betrüger und gehören eigentlich hinter Schwedische Gardinen!" Das Schreiben wurde am 21. Juni 1954 abgeschickt, die deutsche Elf hatte am Nachmittag zuvor mit 3:8 gegen Ungarn verloren, deshalb war die Überschrift der Notiz auch: "Herberger!" Die Bild-Zeitung übrigens titelte: "Schwerster Schlag für Deutschlands Fußball!"

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Mario Gomez ist im Spiel gegen Portugal mit großer Konsequenz das gesamte Spiel über falsch gestanden, er ist nicht einmal gelaufen. Doch vom Bundestrainer bekommt der Stürmer dafür: nur Lob.

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Nun, nach dem ersten Spiel der deutschen Nationalelf bei der Europameisterschaft 2012 gibt es erneut böse Aussagen. Sie zielen auf Mario Gomez - und das Pendant zum Briefeschreiber von damals ist Mehmet Scholl. Der sagte nach dem Spiel über Gomez: "Ich hatte zwischendrin Angst, dass er sich wund gelegen hat, dass man ihn wenden muss."

Wohlgemerkt: Die deutsche Elf hatte mit 1:0 gegen Portugal gewonnen, Gomez das einzige Tor erzielt. Wer heute ausländische Zeitungen aufschlägt, der liest das Gejammer der portugiesischen Journalisten: Ach wenn, ja wenn wir doch nur einen hätten, der vorne die Dinger reinschießt! Und die holländische Presse lamentiert sowohl über Egoismus wie auch die mangelnde Fähigkeit der Akteure, ein Tor zu erzielen.

Fußballer werden seit jeher harsch kritisiert, vor allem, wenn sie den elitären Begriff "Nationalspieler" führen dürfen. Nur: Häme und Spott muss ein Fußballer gewöhnlich nur bei Misserfolg ertragen. Das kennt Gomez. Bei der EM vor vier Jahren schaffte er es auf groteske Art und Weise einen Ball aus zwei Metern Entfernung nicht ins Tor zu schießen, zuvor hatte er gegen Polen knapp vorbeigezielt, weil ihm Klose den Ball ein wenig ungenau serviert hatte. Und zwei Jahre später bei der WM galt ein Sieg der deutschen Elf erst dann als wirklich sicher, wenn der Trainer sich traute, Gomez einzuwechseln.

Kritik bei Erfolg dagegen, das ist neu. Es ist noch gar nicht so lange her, da wäre einer wie Gomez gefeiert worden ob seines Instinkts und seiner Effizienz, die aus einem schmutzigen Unentschieden einen schmutzigen Sieg machten. Der Fußball selbst und der mediale Umgang waren einfach gestrickt. Doch mittlerweile wirkt das wie eine Utopie aus einer längst vergangenen Zeit.

Freilich darf man eine Partie nicht nur nach ihrem Ergebnis beurteilen, eine differenzierte Betrachtung des Zustandekommens ist ebenso wünschenswert wie eine Bewertung der B-Note. Joachim Löw hat sich beim EM-Auftakt für Pragmatismus und Realismus entschieden und den künstlerischen Anspruch hintangestellt. Symbolfigur ist der Toreschießer Gomez, an dem sich nun der mediale Furor entlädt.

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Der deutsche Torwart lässt sich auch von einem fiesen Zusammenprall nicht schrecken, Mats Hummels widerlegt alle Kritiker und Mario Gomez trifft genau in dem Moment, als die deutschen Zuschauer die Einwechslung von Miroslav Klose fordern. Die DFB-Elf beim 1:0 zum EM-Auftakt gegen Portugal in der Einzelkritik.

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Scholl ergänzte seine Wundliegen-Beleidigung noch: "Wie lange hält eine Mannschaft so was aus? Das gibt's heute im modernen Fußball eigentlich nicht mehr, dass ein Spieler einfach nur zentral bleibt, keinen Ball kurz haben will, sondern nur irgendwo auf Flanken hofft." Scholl sieht sich gerne in der Rolle des schelmischen Spitzbuben, er mag kesse Sprüche. Vor Jahren sagte er einmal: "Hängt die Grünen, solange es noch Bäume gibt!"

Joachim Löw entschied sich beim Spiel gegen Portugal für Pragmatismus und den Toreschießer Mario Gomez - und lag damit richtig. (Foto: REUTERS)

Die Medien ziehen nach und es entsteht eine Debatte, wo keine sein sollte. Im Tagesspiegel ist über Gomez zu lesen: "Das ist ein Luxus, den sich auf höchstem Niveau niemand mehr leisten kann. Gerade in engen Spielen stößt Gomez an seine Grenzen." In der Welt steht: "Es ist vollkommen richtig, dass ein Stürmer im modernen Fußball auch Defensivaufgaben zu erfüllen hat. Und es stimmt auch, dass Gomez dort schlampte."

Es geht im modernen Fußball offenbar nicht nur um Kurzpassspiel, sondern auch darum, Nuancen bis ins kleinste Detail zu debattieren und bestenfalls noch eine Wenn-dann-These aufzustellen. Oft war zu lesen: "Hätte Löw ein paar Minuten eher gewechselt, dann wäre Gomez für den Rest der EM auf der Bank gesessen." Nur ganz selten stand da: "Hätte Löw ein paar Minuten eher gewechselt, dann hätte Deutschland dieses Spiel nicht gewonnen."

Viele diskutieren nun darüber, welche Aufgaben ein moderner Stürmer hat. Gomez ist kein Nach-hinten-Arbeiter, kein Ball-Praller, kein Flügel-Ausweicher. Er ist ein Toreschießer. Es mögen einige vergessen haben, aber auch ein moderner Stürmer darf hin und wieder ein Tor erzielen. Und wenn er ganz viele Tore erzielt, dann ist das seine - ganz modern ausgedrückt - Unique Selling Proposition. Sein Alleinstellungsmerkmal. Und das ist bei Gomez ziemlich beeindruckend.

Der Briefeschreiber aus Kiel, der Sepp Herberger "Lump und Betrüger" schimpfte, hat sich nach der Weltmeisterschaft 1954 übrigens entschuldigt. Schriftlich. Mehmet Scholl sollte sich ernsthaft überlegen, sich für seine Wundliegen-Beleidigung bei Gomez zu entschuldigen. Gerne auch mündlich.

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