Italiens Nationalmannschaft vor dem EM-Finale:Blumen, gewachsen aus Mist

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Der Enthusiasmus, der sich derzeit an der Squadra Azzurra entzündet, ist Frucht des Entsetzens nach der peinlichen Vorstellung bei der WM 2010. Der Finaleinzug der Italiener zeigt der Nation nun, dass es auch nach der schlimmsten Krise weitergeht. Die zentralen Akteure des Aufschwungs sind Coach Cesare Prandelli und Stürmer Mario Balotelli.

Birgit Schönau

Vielleicht ist es ein neues 1968. Auch wenn Cesare Prandelli, der revolutionäre Coach der Squadra Azzurra, flugs auf den guten alten Catenaccio umstellt, wenn er gefragt wird ob a) seine Mannschaft am Sonntag den Titel holen könnte wie zuletzt vor 44 Jahren und b) die Nationalmannschaft etwa die Speerspitze der Erneuerung im ganzen Land sei. "Spanien ist Favorit", sagt Prandelli, "die haben mehr Erfahrung und mehr Kontinuität im Spiel." Und außerhalb des Platzes: "Vorsicht, wenn es um Italien geht."

Die Gesichter des italienischen Erfolges: Trainer Cesare Prandelli und Stürmer Mario Balotelli. (Foto: dpa)

Während in der Heimat die glückstrunkenen Tifosi die Nacht durchfeierten, ging der Commissario Tecnico schon wieder pilgern. Diesmal zehn Kilometer zu Fuß. Wenn sich tatsächlich ein neues 1968 anbahnt, dann mit dem Segen von oben. Der Bischof von Rom ließ jedenfalls schon mal seiner Freude darüber Ausdruck verleihen, dass seine Gemeinde den Sieg über die Deutschen feierte. Joseph Ratzinger war in dieser Nacht zwar kein Italiener. Aber er ist nun einmal Römer.

Deutschland besiegt, also. I crucchi (unübersetzbar, aber sehr verbreitet). I panzer (muss nicht übersetzt werden), i barbari (idem). Wie 1970, wie 1982, wie 2006, aller guten Dinge sind eben vier. Da kann Prandelli tiefstapeln wie er will: Es war schon ein besonderes Fußballspiel und das Ergebnis ist derart beflügelnd, dass die Nacht von Warschau bereits mythisch verklärt wird. Italiens bekanntester Fußballkritiker Mario Sconcerti schwärmte von "der schönsten Partie Nachkriegsitaliens", dem "vollständigsten, gewolltesten Spiel, anders als alle anderen".

Er rühmte "Schönheit, die aus dem Bewusstsein um die eigenen Fähigkeiten kommt und daher, genau so zu spielen, wie es erdacht war". Und er behauptete, noch nie sei Deutschland auf derart frohgemute, ja sonnige Weise dominiert worden. Mit einem 21-Jährigen, der beide Tore für die Italiener schoss: Mario Balotelli ist jetzt schon die herausragende Überraschung des Turniers.

Ein Spieler mit einer großen Zukunft, die jetzt erst anfängt. Schon wird er mit Gianni Riva verglichen, dem bis heute unerreichten Torjäger der Azzurri. Riva hatte bei diesem Turnier die Rolle als Balotellis "Mentor" übernehmen sollen, musste aber wegen einer Schulterverletzung zu Hause bleiben. Der Jüngste im Team schaffte es auch allein. Beim zweiten Treffer zog er sich das Hemd aus und zeigte der Welt seinen durchtrainierten Körper. Eine Geste gewaltiger Vitalität.

Eher nüchtern formulierte der frühere Juventus-Profi und ehemalige Abgeordnete (der Linken) Massimo Mauro den Grund für so viel Freude: "Prandellis Meisterwerk." Stückweise aufgebaut, am Ende eine riesige, positive Überraschung. Und der Beweis für die alte italienische These, dass nur aus Mist Blumen wachsen, dass eine Niederlage stärker inspiriert als der Sieg und dass es nach der schlimmsten Krise besser weitergeht. Der Enthusiasmus, der sich an der Squadra Azzurra entzündet, ist Frucht des Entsetzens nach der peinlichen Vorstellung bei der WM 2010. Damals mussten die den Titel verteidigenden Azzurri nach siegloser Vorrunde abtreten.

Italiens Fußball schien vier Jahre nach dem Gewinn der WM total am Boden zu sein. Die Nationalmannschaft am Ende, die Stadien marode und leer, dazu das Hooligan-Problem. Wenn es am Horizont wenigstens den Silberstreif einer Europameisterschaft im eigenen Land gegeben hätte! Aber die EM 2012 hatte die Uefa nicht Italien gegeben, sondern Polen und der Ukraine. Bis heute ist diese Schmach in Italien unvergessen. Da tut es besonders gut, nach dem Sieg über die Deutschen im Finale zu stehen.

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Die einen werden ausgelacht, andere dürfen ordentlich blechen: Bei der EM ist wahrlich nicht jeder ein Gewinner. Die Holländer müssen wegen ihres frühen Scheiterns Witze über sich ergehen lassen, einem Russen droht gleich das Exil - und sogar Jürgen Klopp hat wenig Grund zur Freude.

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Prandelli machte, was jeder andere an seiner Stelle auch getan hätte. Er nahm, was aus der Weltmeisterelf übrig geblieben war - Pirlo, De Rossi, Buffon, später Barzagli -, garnierte das mit Talenten wie Marchisio und Montolivo, zeigte etwas Risikofreude mit Balotelli. Sein EM-Kader besteht zum größten Teil aus Spielern von Meister Juventus Turin. Prandelli war selbst Juve-Spieler.

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Deutsche Medien beweinen die Bitterkeit der Halbfinal-Niederlage gegen den Angstgegner, italienische Zeitungen feiern die fulminante Show von Stürmer Mario Balotelli, britische Boulevardjournalisten beschäftigen sich eher mit seinen Brustmuskeln. Die DFB-Elf sieht man sogar in den USA kritisch.

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Dass seine Nationalmannschaft dennoch nicht spielt wie Juve, liegt auch an den Stürmern Balotelli, Cassano, Diamanti und Di Natale, die alle woanders spielen. Vor allem aber liegt es am Trainer selbst. Ein Trainer, der nicht wie General Conte bedrohlich fuchtelnd am Spielfeldrand steht. Sondern bei dem man das Gefühl hat, er stehe selbst auf dem Platz, irgendwo auf seiner alten Position im Mittelfeld, zwischen Pirlo und De Rossi.

Italiens Cheftrainer ist ein Mann von großem Charisma. Nicht laut, nicht autoritär. Aber streng. Prandelli achtet auf die Einhaltung der Regeln, nicht nur der Spielregeln. Das hat ihm Respekt verschafft. Aber er verteidigt seine Spieler auch nach außen, er baut sie auf, er begeistert sie für das Projekt. Das hat ihm eine empathisch funktionierende Mannschaft verschafft. "Wir haben fantastisch gespielt", sagte Prandelli nach dem Sieg über Deutschland, hatte aber doch einiges zu kritisieren: "Wir hätten das 3:0 machen müssen. Und in der letzten Viertelstunde standen wir zu wacklig."

Noch drastischer schimpfte Gigi Buffon. Nach dem Schlusspfiff tobte der Kapitän wie eine Furie über den Rasen, die Komplimente und Freudengesten der Teamgefährten wies er ungeduldig zurück. Warum war Buffon so in Rage? "Bei einem so wichtigen Spiel kann man nicht die letzten fünf Minuten vor sich hinleiden", erklärte er, als er sich endlich abgekühlt hatte: "Wir haben mit dem Feuer gespielt." Am Sonntag, im Endspiel gegen Spanien, soll das nicht passieren. Dann will Buffon endlich gleichziehen mit Dino Zoff. Der gewann als bisher einziger eine Welt- und eine Europameisterschaft. Letztere 1968.

© SZ vom 30.06.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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