Italien im EM-Viertelfinale:Freistoß-Gift vom Schleicher

Lesezeit: 3 min

Still, abgründig, bisweilen genial: Die italienische Elf ist ganz auf die Eingebungen von Andrea Pirlo ausgerichtet. Die Spezialität des Mittelfeld-Denkers sind Freistöße - seine Gegner fürchten sie, seine Mannschaft verehrt ihn dafür. Dabei schien Pirlo vor Jahresfrist noch am Ende zu sein.

Birgit Schönau

Glücklich das Land, das diesen Antihelden hat. Glücklich die Mannschaft, die von Andrea Pirlo abhängt. Die Squadra Azzurra dreht sich um den 33-jährigen Mittelfeldspieler wie die Erde um die Sonne, er ist ihr Dreh- und Angelpunkt, ihr Motor und ihr Regisseur.

Seine Freistöße sind pures Gift: Andrea Pirlo lenkt das Spiel der Italiener. (Foto: Getty Images)

Die Italiener sind komplett Pirlo-zentrisch, und das ist ein Riesenproblem. Für die anderen. "Pirlo ist der Spieler, der mir am meisten Sorgen bereitet", sagte Spaniens Trainer Vicente del Bosque - er sorgte sich zu Recht. Ein knackiger Billardstoß von Pirlo auf den Fuß von Antonio Di Natale - und schon hatte Spanien das Nachsehen. "Ich finde Luca Modric besser als Pirlo", tönte Kroatiens Slaven Bilic - ein fein gedrechseltes Freistoßtor des Italieners ließ ihn verstummen. "Pirlo macht Italien groß", erklärte Irlands Giovanni Trapattoni, und dann war Italien nicht groß, weil Pirlo einen schlechten Abend hatte.

"Meine bisher schlechteste Leistung", fand er selbstkritisch. Es reichte aber immer noch für zwei Eckstöße an die Adresse der Torschützen Cassano und Balotelli und damit für den Einzug ins Viertelfinale. Jetzt kommt England. Und auch dieser Gegner zollt ihm Respekt. Die Engländer nennen Andrea Pirlo "Pass Master", Meister des Zuspiels. Und "Silent Leader".

Still, abgründig und genial. Es stimmt ja: Niemand schweigt so beharrlich wie Andrea Pirlo. Im Land des großen Palavers ist der Lombarde aus Brescia der größte Schweiger seit Dino Zoff, und wenn man die beiden zum Schweigewettbewerb bitten würde, hätte Dino Nazionale vermutlich sogar das Nachsehen. Denn Pirlo schafft es, sich selbst vollkommen nach Innen zu kehren.

Das Gesicht ausdruckslos. Der Blick leer. Die Körperhaltung schlaff. So wie der Mann auf den Platz schleicht, wirkt er, als wäre er lieber zu Hause geblieben. Viel zu laut das Publikum, viel zu grob der Gegner, es könnte Kunst sein und ist doch eine elende, vulgäre Plackerei. Doch dann nimmt er sich den Ball. Schiebt ihn sich zurecht, mit einer nachlässigen Bewegung. So nachlässig, wie er sich das strähnige Haar aus dem Gesicht streicht. Und das Stadion hält die Luft an.

Er ist nicht groß: 1,77 m. Er ist nicht schön. Er lächelt nie. Er ist mysteriös und konzentriert wie eine Sphinx. Auf seine Mitspieler wirkt er wie ein Magnet, die Gegner hypnotisiert er wie die Schlange das Kaninchen. "Der stärkste Spieler der Welt", schwärmt sein Kollege Daniele De Rossi (AS Rom), neben Torwart Gianluigi Buffon, Verteidiger Andrea Barzagli und Pirlo (alle Juventus) der vierte verbliebene Weltmeister von 2006 im Team. Buffon preist seinen Teamkollegen von Juventus Turin so: "Sein Können bringt uns in Verlegenheit."

Fakt ist: Alle Freistöße und Eckbälle gehen im italienischen Team von Pirlo aus. Er wird gerühmt für seine unerreichte Präzision. Lässig, ja intuitiv sieht das aus, doch Pirlos beidfüßig ausgeführte Geniestreiche sind auch das Ergebnis disziplinierter Arbeit.

Presseschau zu Deutschland gegen Griechenland
:"Oh nein, die Deutschen"

Deutschland spielt Tiki-Taka: Nach dem Viertelfinal-Sieg gegen Griechenland überschlägt sich die Presse mit Lob für die DFB-Elf. Voller Ehrfurcht wird die "deutsche Walze" gelobt. Die Engländer fürchten sich schon jetzt vor dem möglichen Halbfinalgegner Germany, die Griechen sind trotz der Niederlage stolz auf ihre Mannschaft.

zum Spiel

Es war Carlo Ancelotti, der beim AC Mailand das Mittelfeldtalent zum Freistoßspezialisten erkor: "Pirlo antwortete, wie das so seine Art ist - er neigte nur leicht den Kopf. Und trainierte ab sofort täglich 40 Minuten Freistöße." Der Spieler selbst hat in einem seiner extrem seltenen Interviews gestanden: "Ich war immer schon auf Freistöße fixiert. Am Wichtigsten ist es, den Ball richtig hinzulegen, die Anlaufzeit genau zu berechnen. Dann schieße ich mit dem Fußrücken." Das Geheimnis des Freistoß-Metaphysikers Andrea Pirlo ist also Berechnung, das Ergebnis "pures Gift", glaubt sein einstiger Teamkollege in Mailand, der Niederländer Clarence Seedorf.

Zwei Schritte Anlauf, ein Tor: Andrea Pirlo freut sich über das 1:0 für Italien bei der Fußball-EM. Die 72. Minute war nicht erfreulich. Da schoss Mandzukic den Ausgleich. (Foto: Getty Images)

Gift, auf dass Nationaltrainer Cesare Prandelli nicht verzichten kann. Prandelli hat seine Mannschaft ganz auf Pirlo ausgerichtet, gleichgültig, ob die Azzurri mit einer Dreier- oder, wie gegen England wahrscheinlich, mit einer Viererabwehr spielen. In seinem blinden Vertrauen auf Pirlo folgt der ehemalige Juve-Spieler Prandelli dem heutigen Juve-Trainer Antonio Conte. Der Erfolg gibt beiden Recht. 53 Spiele hat Pirlo in dieser Saison absolviert, fast alle von der ersten bis zur letzten Minute. 41 Einsätze gingen auf das Konto von Juventus, darunter war nur eine einzige Niederlage.

Dabei schien Andrea Pirlo vor Jahresfrist am Ende zu sein. Am Ende nach zehn Jahren, 401 Einsätzen und zwei Champions-League-Siegen mit dem AC Mailand. Im Sommer 2011 lief Pirlos Vertrag aus, und der Spieler zeigte kein Interesse an Erneuerung. Wochenlang blockte er alle Fragen ab, dann verkündete er seine Entscheidung: Wechsel zu Juventus Turin: "Nach zehn Jahre brauche ich einen Tapetenwechsel." Aber der neue Juve-Trainer Antonio Conte wollte Pirlo gar nicht. Er intervenierte - zum Glück zu spät. Heute ist Juventus genauso Pirlo-abhängig wie die Nationalmannschaft. "Er strahlt Ruhe aus", sagt Conte über Pirlo - beide wurden in ihrem ersten Jahr bei Juventus auf Anhieb Meister.

Ruhe und Konzentration. Manchmal scheint es, als spiele Andrea Pirlo in einem luftleeren Raum. Er schafft es, die Gegner auf Abstand zu halten, genau wie die Medien: Über sein Privatleben weiß man wenig, außer: verheiratet, zwei Kinder. Und wie es die sensationslüsterne italienische Sportpresse nicht wagt, Andrea Pirlo einzukesseln, traut sich kaum ein Gegner, ihn per Foul zu bremsen. Der stille Andrea Pirlo verbreitet um sich eine im Fußball höchst seltene Aura des Respekts, wie sie sonst nur Spieler wie Messi oder Ronaldo genießen.

Sonntag wird er versuchen, England zu hypnotisieren. Dazu, warum nicht, ein bisschen Freistoß-Gift. "Ich freue mich aufs Viertelfinale", hat er gesagt. "Jetzt geht's endlich los. Und ich schätze, wir können es weit bringen." Geschätzt? Berechnet? Pirlo, der Abgründige, hat nur fein gelächelt.

© SZ vom 23.06.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: