Italiens Nationalteam:Mit Gefühl gegen alle Widrigkeiten

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Ungewöhnliches Vorbild für die Fußballer: Luciano Spalletti (r.) mit Australian-Open-Sieger Jannik Sinner. (Foto: Claudio Villa/Getty Images)

Luciano Spalletti übernahm ein italienisches Nationalteam in der Krise, das seitdem von einem Wettskandal und einem Rassismus-Eklat zerpflückt wurde. Deshalb muss der guruhafte Konzepttrainer nun den Pragmatiker in sich entdecken.

Von Thomas Hürner

Das Selbstverständnis der Squadra Azzurra, des Nationalteams Italiens, ist seit jeher klar definiert: Die Fußballer sind Vorreiter, an ihnen richten sich alle aus in dieser auch sonst erfolgsverwöhnten Sportnation. Mitunter teilt man sich die Rolle auch mal wohlwollend mit Ferrari, der rote Mythos strahlt auch ins azurblaue Hoheitsgebiet hinein. Aber sonst? Viermal Weltmeister, dazu zwei Europameistertitel - von irgendwoher kommt der landesweite Sonderstatus schließlich nicht.

Es war daher schon erstaunlich, mit welcher Verve jüngst der Tennisstar Jannik Sinner im angemieteten Trainingscamp in Miami, Florida, empfangen wurde. Die Italiener waren für eine kleine US-Tour über den Atlantik gereist, in unmittelbarer Nachbarschaft hatte sich Sinner gerade auf ein ATP-Turnier vorbereitet. Sinner, seit Kindestagen Anhänger der AC Milan, hat seit seinem Triumph bei den Australian Open einen kleinen Tennisboom in der Heimat ausgelöst und wurde von den Fußballern angemessen empfangen: Alle rissen sich um Fotos mit ihm, der 22-Jährige wurde geradezu hofiert; unter anderem von Torwartlegende Gianluigi Buffon, mittlerweile Teammanager des Nationalteams. Coach Luciano Spalletti gratulierte Sinner zu den "herausragenden Ergebnissen" und er empfahl seinen Spielern: "In Sachen Disziplin und Motivation kann er uns eine Orientierung sein." Von diesen Worten inspiriert hat die Gazzetta dello Sport dann sogar eine große Leitfrage entworfen: Was kann die Squadra Azzurra von Sinner lernen?

Das spricht für Sinner, denn normalerweise wird in Italien eher geschaut, welche Referenzpunkte aktuelle Nationalspieler in ihren historischen Vorgängern finden könnten; in solchen Fragen ist der Calcio ein monolithischer Block. Die Fußballer haben gerade aber ein recht zwiespältiges Verhältnis mit sich selbst: Im Sommer fahren sie als Titelhalter zur EM in Deutschland, das paneuropäische Turnier 2021 hatte die Italiener wieder mit Stolz ausgestattet. Einerseits. Andererseits war die Rückkehr zu den Großmächten des Fußballs flüchtig, ein Funkenflug nur: Die Qualifikation zur WM in Katar wurde verpasst, so wie auch bei der WM davor. Eine Schmach, schon wieder.

Die italienischen Fußballer sind gerade in einer Art Selbstfindungsphase, das ist ein bisschen wie bei den Deutschen. Und wie bei der DFB-Elf, die im vergangenen Herbst auf Klassenfahrt nach Übersee ging, sollte die US-Reise auch bei der Squadra Azzurra einen bestenfalls identitätsstiftenden Charakter haben. An den Ergebnissen ist dieses Vorhaben jedenfalls nicht gescheitert: Die Italiener gewannen erst 2:1 gegen Venezuela, und am Sonntag gelang ein 2:0-Sieg gegen Ecuador. Durchweg glorios waren die Auftritte nicht, aber das war auch gar nicht der Anspruch von Coach Spalletti. Dabei neigt er eigentlich zu stilistischer Perfektion; dafür steht sein Vorjahres-Meistertitel mit der SSC Napoli - eine der anmutigsten Mannschaften, die es südlich der Alpen zuletzt so zu sehen gab.

Nur lassen sich seine Ideen bei der Nazionale halt nicht so stringent lehren wie im Klubfußball, zumal immer neue Widrigkeiten auf Spalletti zufliegen: Schon sein Eintritt in den Staatsdienst war ein Politikum, sein Vorgänger Roberto Mancini war kurz zuvor mutmaßlich des Geldes wegen nach Saudi-Arabien aufgebrochen. Ein Abgang wie ein Beben war das. Spalletti übernahm quasi über Nacht, als Wunschkandidat der Verantwortlichen und Fans.

Doch kurz darauf brach schon ein Wettskandal über den Calcio hinein, mit einer Sperre unter anderem für Sandro Tonali, kurz zuvor für 80 Millionen Euro zu Newcastle United gewechselt; dabei wäre der Mittelfeldmann eine Figur gewesen, an der Spalletti das Team hätte ausrichten können. Und nun auch noch das: Francesco Acerbi, 36-jähriger Abwehrchef von Inter Mailand, soll in einem Ligaspiel einen Gegenspieler rassistisch beleidigt haben. Noch steht in der Sache Aussage gegen Aussage, an eine Zukunft in der Nazionale glauben aber nur die wenigsten. Acerbi, 36 Länderspiele und wie gemacht für eine Führungsrolle, war jedenfalls gar nicht erst mit in die USA gereist. Kurz vor Abflug trat er den Rückweg an, gefilmt von TV-Kameras und im verbalen Selbstverteidigungsmodus.

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Spallettis nutzt die Testreihe für Experimente

Spalletti ist das, was man hierzulande einen Konzepttrainer nennen würde, noch dazu ausgestattet mit einer etwas guruhaften Attitüde. Seine Lehre ist komplex, aber gerade erkennt er auch den Pragmatiker in sich: Ihm bleibt ja auch nichts anderes übrig. Und das zeigt sich auch in seiner Rhetorik. Spalletti kann herrlich über Fußball dozieren, über strategische Feinheiten, die nur Fachleute bemerken. Neulich appellierte der Coach bei seinen Spielern jedoch daran, dass das Tragen des azurblauen Leibchens Gefühle auslösen muss wie der Anblick einer Jugendliebe. Immer, ausnahmslos. Verbundenheit schlägt Komplexität, das ist jetzt Spallettis Kalkül; wenngleich er natürlich auch weiß, dass er's trotzdem schlimmer haben könnte. Denn für Spalletti ist es eine echte Fügung, dass Inter Mailand, der dominante Tabellenführer in der Serie A, unter Coach Simone Inzaghi einen Stil ähnlich dem seinigen spielt.

Spalletti nutzte die Testreihe für Experimente, die Startelf gegen Ecuador war aber auch schon ein Vorausblick aufs Turnier in Deutschland: mit Innenverteidiger Alessandro Bastoni und Flügelmann Federico Dimarco, zwei Linksfüßler und europaweit jeweils Spitzenkräfte in ihren Rollen; dazu der vielseitige Defensivspezialist Matteo Darmian und der hoch veranlagte Mittelfeldmann Nicoló Barella, der die Kapitänsbinde am Arm trug und am Sonntag per Lupfer den 2:0-Endstand erzielte. Dieser Block muss sich nicht erst einlesen in Spallettis Lehre, dasselbe gilt für Regisseur Jorginho vom FC Arsenal: Fixe Positionen, so kennen diese Spieler das von ihren Klubs, sind dabei nur Ausgangspunkte, von denen ein hypnotisches Wechselspiel aus Rochaden und Zirkulationen des Balls in Gang gebracht werden soll. Sie folgen dabei klaren Prinzipien, das schon. Aber wie die Theorie mit Leben gefüllt wird, das entscheiden die Spieler autonom und mitunter intuitiv.

Spallettis Credo ist da klar: Selbstverantwortung schult Selbstbewusstsein, zumal er nicht in allen Spielzonen auf höchste Güteklasse zurückgreifen kann. Im ersten Spiel gegen Venezuela traf etwa der vor Kurzem eingebürgerte Mateo Retegui doppelt, er hat auch einen argentinischen Pass. Zwei herrliche Stürmertreffer waren das. Aber kann einer, der seine erste Serie-A-Saison beim Mittelklasse-Team CFC Genua bestreitet, auch bei einer EM die Zuspitzung im italienischen Angriff sein? Das weiß keiner. Und in dieser Frage kann wahrscheinlich nicht mal Jannik Sinner helfen.

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