Holstein Kiel im DFB-Pokal:Nach der Sensation kam die Seuche

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Nach dem Sieg gegen den FC Bayern gab es für die Kieler, hier Fabian Reese, natürlich kein Halten mehr. (Foto: Getty Images)

Zweitligist Holstein Kiel warf den FC Bayern aus dem Pokal und lag klar auf Aufstiegskurs. Vor dem Halbfinale in Dortmund ist noch alles möglich - aber Köpfe und Beine sind nach zwei Quarantänen erschöpft.

Von Thomas Hürner, Kiel/Hamburg

Was ist Erfolg? Eine Frage, auf die es unzählige Antworten gibt, wie so oft im Leben kommt es auf die Perspektive an. Für einige ist Erfolg gleichzusetzen mit Geld und noch viel mehr Geld, für andere sind es die richtige Geisteshaltung oder ein bisschen Anerkennung. Das Lexikon, ein altgedienter, aber weiterhin verlässlicher Ratgeber, definiert Erfolg hingegen als "positives Ergebnis einer Bemühung".

Womit man bei Ole Werner wäre, dem erst 32 Jahre alten Trainer von Holstein Kiel, der mit seinem Team drauf und dran war, eine historische Gelegenheit beim Schopfe zu packen. Und für den sich das gerade sehr fern anfühlt, obwohl nur wenige Monate zwischen damals und heute liegen.

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"Wir können jetzt nur versuchen, alles rauszuholen, was unter diesen Umständen möglich war", sagt Werner am Telefon, als er gerade ein Hotelzimmer bezieht und auf dem Bett ein paar Weingummis entdeckt. "Ein bisschen Zucker", das brauche er jetzt, sagt Werner. Nervennahrung für komplizierte Zeiten, so ließe sich sein Impuls womöglich auch verstehen.

Der Pokalerfolg gegen den FC Bayern ist nur vier Monate her

Rückblende, der 14. Januar 2021, ein Pokalspiel im Schneegestöber: An der Förde war ein veritabler Sturm aufgezogen, was sicher auch ein kleiner Faktor dafür war, dass der Zweitligist Kiel den großen FC Bayern aus dem Wettbewerb blasen konnte. 8:7 nach Elfmeterschießen, sogar Fortuna war dem Außenseiter gewogen. Auf den Straßen wurde pandemiekonform gefeiert, der schleswig-holsteinische Ministerpräsident ließ Glückwünsche ausrichten. Auch im vermeintlichen Tagesgeschäft lagen die Küstenstädter über Plan, die Segel waren klar auf Erstligakurs gesetzt.

Auf den ersten Blick hat sich nicht viel geändert, die "Störche" befinden sich nach allgemeinem Dafürhalten weiterhin auf einem echten Höhenflug. Über Darmstadt 98 und Rot-Weiß Essen ging es im DFB-Pokal sogar noch zwei Runden weiter, an diesem Samstag (20.30 Uhr) steht das Halbfinale bei Borussia Dortmund an. Und es sind ja schon Zweitligisten zum Endspiel nach Berlin gefahren, zumal es sich bei Holstein um einen Zweitligisten mit mathematisch weiterhin guten Aufstiegschancen handelt.

Aber angesichts der "ganzen Rückschläge", sagt Trainer Werner, wäre das alles eine "noch größere Sensation als eh schon".

Von der Pandemie ist grundsätzlich kein Fairplay zu erwarten, doch die Kieler hatte es zuletzt schon besonders schlecht erwischt. Aufgrund mehrerer Corona-Fälle mussten sie sich gleich zwei Mal in eine zweiwöchige Quarantäne begeben, als erstes Team im deutschen Profibetrieb. Das Training wurde jeweils ins Home-Office verlagert, auf Yogamatten und Spinning-Räder. Nicht gerade ideale Bedingungen für die Fitness und die Spritzigkeit der Spieler. Aber der wahre "Schlag ins Kontor", sagt Werner, habe die Psyche betroffen, auch seine eigene.

"Die Beine sind müde", sagt Werner mit Blick auf das straffe Resprogramm

Bei Bekanntwerden der ersten Quarantäne sei in der Mannschaft noch trotzige Aufbruchstimmung zu vernehmen gewesen. Beim zweiten Mal: Resignation. In den ersten Tagen haben sich die Beteiligten komplett abgekapselt, es gab erst mal keine Videoschalten mehr, keine Team-Building-Maßnahmen aus der Distanz. Eine Selbstisolation in der Isolation, sozusagen. Ole Werner selbst machte sich eine Liste mit Punkten, die es im Laufe des Tages abzuarbeiten galt, "das hat mir Struktur gegeben", sagt er.

Die Kieler haben sich jedoch berappelt, der Re-Start aus der zweiten Quarantäne verlief mit einem 3:1-Sieg in Osnabrück und einem 1:1 in Nürnberg besser als erwartet. Auf den direkten Aufstiegsrang zwei fehlen sieben Punkte, bei derzeit drei Spielen weniger als die Konkurrenz vorzuweisen hat.

Weiterhin beste Aussichten also? Nicht unbedingt, glaubt Werner, der zwar keineswegs dem Defätismus frönt. Der aber darauf verweist, dass auch Zahlen erst mal interpretiert werden müssen. Den Kielern stehen wegen der vierwöchigen Spielpause nur noch englische Wochen bevor, sieben Spiele bis zum Saisonende am 23. Mai, inklusive der Pokalpartie in Dortmund. Das psychische Tal ist zwar überwunden, "aber die Beine sind jetzt schon müde", sagt Werner.

Es ist schon eine eigenartige Situation, in der sich die Kieler befinden. Einer der größten Momente der Vereinsgeschichte, der Pokalsieg gegen die Bayern, liegt gerade mal vier Monate zurück. Noch größere Momente scheinen in unmittelbarer Reichweite - aber die Kieler haben müde Beine, weil ihre bislang wohl erfolgreichste Saison ausgerechnet ins Zeitalter der Seuche fällt.

An der Förde haben sie trotzdem schon viel erreicht, das weiß niemand besser als Werner selbst. Er ist nur deshalb im benachbarten Preetz geboren, weil in einem Kieler Krankenhaus kein Platz mehr war, danach hat er seine Heimat nur zwei Mal für längere Zeit verlassen. Mit 17 wechselte Werner ins Jugendinternat von Hertha BSC, nach wenigen Monaten war er zurück im Holstein-Nachwuchs. Die Distanz behagte ihm nicht. Und als es wegen Hüftproblemen auch beim Herzensklub nichts mit der Profikarriere wurde, buchte sich Werner einen Flug nach Australien - Work and Travel in einer Gartenbaufirma in der Nähe von Sydney. Auch als Nachtwächter am Kieler TV-Tatort hat er mal gejobbt.

In Kiel waren die Handballer vom THW lange die Nummer eins

"Mein Lebenslauf verläuft nicht linear", sagt Werner, obwohl zwei Zertifikate in seinem Lebenslauf auf eine beachtliche Stringenz hindeuten: Werner ist der aktuell jüngste Chefcoach im deutschen Profifußball, dem Verein ist er sein halbes Leben lang treu geblieben. Im Oktober 2019 begann er als Interimstrainer, seitdem verfolgt er die Grundidee, die seine Vorgänger Markus Anfang und Tim Walter kultiviert hatten. Die Kieler erheben stets den Anspruch, selbst zu gestalten, das Spiel wird von vorne her gedacht. Es gebe viele Wege, um zu gewinnen, sagt Werner: "Unser Weg ist der mit dem Ball."

Vielleicht war der attraktive Stil anfangs auch ein Akt der Selbstbehauptung, die Konkurrenz um Aufmerksamkeit ist schließlich groß in der Region. Der THW Kiel ist im Handball eine international arrivierte Größe und seit jeher der ganze Stolz der Küstenstadt. Die Fußballer von Holstein waren 1912 mal deutscher Meister, lange her, einen Bundesligisten aus Schleswig-Holstein gab es noch nie. Für Kiel ging es zwischendurch runter bis in die vierte Liga.

Doch seit ein paar Jahren, glaubt Werner, bewege sich der Fußball mit der Konkurrenz in der Stadt "auf Augenhöhe". Und wenn er so drüber nachdenkt: Ja, das sei schon ein richtiger Erfolg.

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