Hertha BSC:Dit war Berlin

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Herthas Spieler trauern nach dem Remis gegen Bochum - der Abstieg ist fix. (Foto: Getty Images)

Überall nur Tränen und Trümmer: Ein Gegentor in der Nachspielzeit besiegelt Herthas Abstieg. Es ist der finale Absturz nach Jahren des Größenwahns - und es kann angesichts der dramatischen Finanzlage noch schlimmer kommen.

Von Javier Cáceres, Berlin

Die Popmusikkultur ist voll von Liedern, die von unerfüllter Zuneigung handeln, von toxischen Beziehungen oder darüber, wie schwer es doch sein kann, eine Frau zu lieben. In Berlin gibt es viele Menschen, die das gern präziser ausgedrückt sähen: Nichts ist schwieriger, als eine "Alte Dame" zu lieben. Und doch tun sie es. Und wie sie das tun. Am Samstag zum Beispiel, da folgten sie einer Einladung zu einem Bundesligaspiel gegen Bochum, die mit einem hauchzart aufgetragenen Trauerrand versehen war.

Mehr als 70 000 Menschen, die allermeisten davon: Sympathisanten Herthas. Sie hofften. Und sie hatten Anlass zur Hoffnung. Bis zur letzten Minute der Nachspielzeit, als alles jäh erstarb: Bochums Keven Schlotterbeck stieg zum Kopfball hoch, wuchtete den Ball aus fünf Metern ins Netz und ließ die seit Jahren leckgeschlagene Hertha untergehen. Denn das Tor zum 1:1 war gleichbedeutend mit Herthas siebtem Abstieg der Bundesliga-Geschichte.

"Hertha ist nicht heute abgestiegen", sagte Trainer Pal Dardai nach der Partie - und er sagte das nicht nur mit großer Bestimmtheit, sondern auch mit Berechtigung. Seit dem HSV hat kein Klub der Bundesliga so beharrlich mit dem Abstieg kokettiert wie Hertha BSC; als er dann am Samstagabend, kurz vor halb sechs, vollzogen war, da war das Fußvolk, das sich in den schwierigsten Zeiten so treu gezeigt hatte, so zermürbt und erschöpft von der jahrelangen Misere, dass kaum noch Kraft für Wut da war. Nur noch Leere.

"Ich kann es noch nicht realisieren", sagt der heulende Ur-Herthaner Boateng

Einer nach dem anderen sank auf den Boden; Torwart Oliver Christensen, der zwei glanzvolle Paraden gezeigt hatte und dann beim Gegentor ohne jede Chance war, zog das grüne Trikot über den Kopf - vermutlich, damit man seine Tränen nicht sehen konnte. Kevin-Prince Boateng, der als Kapitän aufs Feld gelaufen war und als Ur-Herthaner gelten darf, sprach noch in ein, zwei Mikrofone von TV-Sendern, dann lief er durch die Stadionkatakomben, ohne ein weiteres Wort zu sagen. Er heulte wie ein Schlosshund. Es war sein letztes Spiel als Profi im Berliner Olympiastadion. "Ich kann es noch nicht realisieren", hatte er zuvor bei Sky gesagt.

Was ja, angesichts der unwahrscheinlichen Klimax der Partie, nur verständlich war. Eine halbe Stunde vor Abpfiff hatte er sich noch bei seiner Auswechslung feiern lassen wie ein Tribun. Weil Hertha da gerade mit 1:0 geführt hatte, eine Schneise zum Überleben geschlagen hatte. Und das auch noch auf unwahrscheinliche Weise. Lucas Tousart (64.) hatte per Kopf nach einer Ecke getroffen, derlei war Hertha in der ganzen bisherigen Saison nicht gelungen. Man hätte sogar meinen können, dass die Hertha sich auf des Messers Schneide in ihrem Element fühlte.

Denn sie hatte, nur mal so zum Beispiel, die Aberkennung des möglichen Führungstreffers durch den Videoschiedsrichter (VAR) hingenommen. Vor dem Tor von Dodi Lukebakio hatte der VAR ein Foul des so betagten wie brillanten Stevan Jovetic im Mittelfeld gesehen. All das war kurz vor Spielschluss: Makulatur. Hertha verschlief einen Umschaltmoment und verteidigte den folgenden Eckball dramatisch schlecht. Da verwandelte sich das Kurzzeitgedächtnis in einen Baseballschläger, der in der Magengrube landete.

Die Kernfrage für die Zukunft ist: Entspricht der Vertrag mit dem neuen Investor den "50+1"-Statuten?

Denn das war ja auch Teil der Wahrheit des Tages: Dass Hertha das zweite oder dritte Tor hätte nachlegen können. Der eingewechselte Chidera Ejuke traf einmal den Pfosten. Stattdessen fiel das 1:1, das aus Bochumer Sicht immerhin bedeutet, dass mindestens der FC Schalke in der Tabelle hinter ihnen stehen wird, wenn in einer Woche der letzte Spieltag angepfiffen wird. Für die Hertha war das Tor, zumindest was die Erstligazugehörigkeit betrifft, die letzte Ölung.

Nur: Es kann ja alles auch noch schlimmer kommen. Aktuell kämpft Hertha um die Bestätigung der Lizenz durch die Deutsche Fußball-Liga (DFL). Sie hat diese bislang nur vorläufig erhalten. Geschäftsführer Tom E. Herrich hatte vergangene Woche bei der Mitgliederversammlung erstmals offen eingeräumt, dass die Gefahr bestehe, die Lizenz nicht zu erhalten. Zudem gibt es Differenzen mit der DFL zu der Frage, ob Herthas Vertrag mit dem US-Investor 777 Partners den "50+1"-Regeln entspricht oder nicht - also jenem Statut, das den Einfluss von Investoren begrenzen soll. Die Hertha sagt, dem sei so, die DFL sehe das "etwas anders", erklärte Herrich.

Dem Kader steht - allein schon wegen geringerer Einnahmen in der zweiten Liga - ein gewaltiger Umbruch bevor. Hertha muss Transfererlöse erzielen: sprich Spieler verkaufen, denen Hertha-Führungskräfte, allen voran "Zecke" Neuendorf, in den vergangenen Tagen pauschal die Erstligatauglichkeit abgesprochen haben. Preistreibend klang das nicht. Beim Anhang versucht Hertha dadurch zu punkten, dass sie einen "Berliner Weg" verspricht, das heißt: Es sollen vor allem Spieler aus der Akademie nach oben geschwemmt werden.

Was für ein radikaler Kurswechsel nach den hochtrabenden Träumen vom Angriff auf das europäische Establishment, als Lars Windhorst Mitte 2019 einstieg und dann insgesamt 374 Millionen Euro in den Verein pumpte. Ein paar Monate war Hertha auf den Champs-Élysées des europäischen Transfermarkts unterwegs, holte zum Beispiel den Franzosen Tousart für angeblich 25 Millionen Euro aus Lyon. Tja.

Die Zukunft von Trainer Dardai ist noch offen

Ob Dardai als Trainer weitermacht, blieb am Samstag offen. Er werde erst eine schriftliche und deutliche Analyse anfertigen und der Vereinsführung vorlegen, sagte er. "Wir sind noch nicht so weit, dass wir über meine Zukunft reden können", beteuerte Dardai. Er werde sich nicht bewerben. Das ist auch nicht nötig: Sein Publikumserfolg bei der Mitgliederversammlung, wo er mit Standing Ovation begrüßt wurde, sprach Bände. In ihm sehen sie den Mann, der nach Sandro Schwarz Tacheles redete, aus Eingeweiden ein Herz formte, an das sie in der Ostkurve glaubten - und an das sie auch am Samstag glaubten.

Denn das taten die Berliner ja gegen Bochum: kämpfen, kratzen, beißen. Und es war ihnen recht egal, dass sich nur ein paar Minuten Fußball zusammenkehren ließen, wenn man mit dem Besen durch das Spiel fegte. Weil die Bochumer ja noch viel nervöser gewesen waren als die Hertha. Es schien, als stünden da elf Herthaner auf dem Platz, die gegen das Stigma ankämpften, das ihnen Neuendorf verpasst hatten, ihren Stolz hervorholten, sich gegen den Abstieg kämpften.

Aber dann war da eben diese eine Ecke, um die Hertha nicht mehr herumkam, weil am Fünfmeterraum nur Schlotterbeck zum Ball sprang und kein Berliner. Und weil dadurch dieses eine Tor fiel, das der seit Jahren am Abgrund wandelnden Hertha einen letzten, unausweichlichen Stoß in die zweite Liga verpasste. Und dennoch: Was Hertha bleibt, auf all den Trümmern, ist die Liebe von so vielen.

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