Hinterher glichen die Gespräche einer Fahndung und einer Anzeige gegen Unbekannt. Es galt, das Rätsel zu lösen, wer oder was für eines der kuriosesten Eigentore dieser Bundesliga-Saison oder vielleicht sogar der Bundesliga-Geschichte verantwortlich gewesen sein konnte. Nach einem harmlosen Rückpass des Heidenheimer Innenverteidigers Benedikt Gimber hatte der Ball ja plötzlich ein Eigenleben entwickelt und just in jenem Moment zu einem beachtlichen Luftsprung abgehoben, als Torwart Kevin Müller mit seinem rechten Fuß zum Schuss ansetzte. Doch sein Versuch ging im Wortsinne nach hinten los, weil der Schlussmann wegen des plötzlichen Hüpfers des Balles deutlich daneben trat. Als sei nichts gewesen, rollte der Ball danach genauso gemächlich über den Rasen ins Tor, wie er sich dem arglosen Müller genähert hatte. "Oh, mein Gott", entfuhr es Heidenheims Torwart spontan.
Die Perfektion des Zufalls war in einer ganz eigenen Ästhetik dahergekommen und animierte zu wilden Fantasien über den Ursprung des Ballhüpfers im exakt richtigen oder falschen Moment, je nachdem, ob man es mit Eintracht Frankfurt hält oder mit dem 1. FC Heidenheim. Gibt es vielleicht schon Bälle mit einer künstlichen Intelligenz, die in diesem Fall genug hatte von dem bis dahin eher mauen Kick und den Unterhaltungswert steigern wollte? Hatte doch nur der gewöhnliche Fußballgott eingegriffen, um Frankfurt und Trainer Dino Toppmöller nach vier Remis und zwei Niederlagen samt Aus in der Conference League im Februar zu helfen, die Negativserie zu beenden? Oder hatte sogar ein Kopfballungeheuer aus der Unterwelt den Ball nach oben katapultiert, ohne sich dabei erkennen zu geben?
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Heidenheims Trainer Frank Schmidt verwies bei seiner Ursachenforschung auf die Lokalpresse: "Vor Kurzem stand in der Zeitung, dass nicht weit von hier, das sind zehn Kilometer, in Oggenhausen, sehr viele Maulwürfe sind. Ich glaube, einer hat sich verirrt nach Heidenheim."
Doch wahrscheinlich litt in diesem Fall der Ruf des in der Fußballbranche ohnehin nicht gut beleumundeten Maulwurfs - ihm wird ja auch nachgesagt, bevorzugt beim FC Bayern sein Unwesen zu treiben und Interna auszuplaudern - zu Unrecht weiter. Auf dem Heidenheimer Rasen war von einem Maulwurfshügel ebenso wenig zu sehen wie von Krallenabdrücken, wie Müller nach einer Tatortbesichtigung berichtete. Am nächsten lag die Theorie, dass es sich wohl schlicht um einen unscheinbaren Platzfehler mit einer physikalisch beinahe unerklärlichen Wirkung gehandelt hatte, nachdem die Erdanziehungskraft kurzzeitig ausgesetzt zu haben schien.
"Es sieht genauso aus, wie es sich anfühlt", sagt Torwart Müller
Müller trug sein Pech mit Galgenhumor und Fassung, obwohl er auch mit einigem Abstand kaum glauben konnte, was ihm in der 39. Minute widerfahren war, als Frankfurt ohne eigenes Zutun in Führung ging. "Es sieht genauso aus, wie es sich anfühlt", sagte Müller. Er habe sich in dem Moment gefragt, ob er sich so massiv verschätzt habe oder was eigentlich passiert sei. "Der Ball ist mir fast an die Hüfte gesprungen", wunderte sich der Torwart. Er sei froh, bei seinem schwungvollen Luftloch nicht auch noch hingefallen zu sein. Doch auch so, ahnte Müller, habe er einen Platz in den Saisonrückblicken sicher und vielleicht auch in der Rubrik "Kacktor des Monats" in Arnd Zeiglers wunderbarer Welt des Fußballs. Sogar Frankfurts Torwart Kevin Trapp fühlte mit dem Kollegen: "Es tut mir für ihn sehr leid."
Die Eintracht verdankte es Gimbers Eigentor maßgeblich, dass sie den in jeder Hinsicht glücklichen 2:1 (1:0)-Sieg davontrug. Nach Niels Nkounkous 2:0 (49.) verpassten die Frankfurter bei weiteren Chancen zwar das 3:0. Doch bald erlahmte ihr kurzzeitiger Offensivelan wieder, und nach Marvin Pieringers Anschluss (59.) mussten sie noch sehr um ihren Erfolg bangen. "Man hat gesehen, dass wir aus einer etwas schwierigeren Phase kommen", sagte Toppmöller euphemistisch.
"Wir müssen besser Fußball spielen", mahnt Frankfurts Sportvorstand Krösche
Immerhin verschafft ihm der erkämpfte Sieg ein wenig Ruhe nach den jüngsten Debatten. Zufrieden sind sie bei der Eintracht allerdings nach wie vor nicht. Man habe "viele Themen, an denen wir arbeiten müssen", sagte Sportvorstand Markus Krösche und wiederholte mehrfach: "Wir müssen besser Fußball spielen."
Die Heidenheimer waren mit ihrem Vortrag und vor allem Engagement sehr einverstanden, zumal die wichtigen Stammkräfte Jan-Niklas Beste und Lennard Maloney verletzt gefehlt hatten. Und auch Torwart Müller ging aus seiner unglücklichen Slapstick-Einlage durchaus gestärkt hervor. Nach dem Abpfiff wurde er von den Fans gefeiert. Trotzdem ahnt der 32-Jährige, dass ihn die unergründliche Szene noch sehr lange verfolgen könnte. Er sagte: "Ich bin mal gespannt, wie zukünftige Generationen darüber reden werden."