Handball-WM:Zerschellt an der Mauer im Kopf

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Emily Bölk (weißes Trikot) erzielte im Viertelfinale das erste Tor für Deutschland - zum 1:7. Nach dem schlechten Start war der Schaden kaum noch zu reparieren. (Foto: Bo Amstrup/AFP)

Nach dem erneuten Viertelfinal-Aus müssen sich die deutschen Handballerinnen eingestehen: Der Abstand zur Weltspitze ist doch größer als erhofft.

Von Ulrich Hartmann

Vierzehn Minuten und sieben Sekunden. In einer solch kurzen Zeitspanne kann ein Gefühl der Stärke, des Selbstvertrauens und der Zuversicht versiegen, das eine Mannschaft zuvor über 14 Turniertage und sechs starke Partien hinweg aufgebaut hat. 14 Minuten und sieben Sekunden lang haben die deutschen Handballerinnen zu Beginn ihres Viertelfinalspiels gegen Schweden bei der Weltmeisterschaft in Dänemark keinen Treffer erzielt. Neunmal warfen sie in dieser Zeit auf das Tor, davon ein Mal per Siebenmeter. Kein einziger Ball ging hinein.

Als Emily Bölk nach 14:07 Minuten den ersten deutschen Treffer erzielte, stand es schon 1:7. In den verbleibenden 45 Minuten und 53 Sekunden, für sich genommen, lautete das Torverhältnis 19:20. In dieser Dreiviertelstunde war es ein nahezu ausgeglichenes Spiel, doch der Schaden war kaum noch zu reparieren. Es war also diese erste Viertelstunde, die das deutsche Team den Einzug ins ersehnte Halbfinale gekostet hatte. Nach der 20:27-Niederlage gegen Schweden spielen die Geschlagenen an diesem Freitag (11.30 Uhr) gegen Tschechien das erste von zwei Platzierungsspielen. Die deutsche Mannschaft, die von einer Medaille träumte, kann jetzt im besten Fall noch Fünfte werden.

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"Leider kenne ich diese Situation nur allzu gut", sagte nach dem Spiel die Kreisläuferin Meike Schmelzer. Die gebürtige Wiesbadenerin spielt seit acht Jahren für das Nationalteam und hat jedes Jahr aufs Neue miterlebt, wie die Mannschaft stets das Halbfinale verpasste - mal mehr, mal weniger knapp. Dass sich womöglich in den Köpfen mehrerer Spielerinnen ein wenig eingebrannt hat, dass die Schwelle zum Halbfinale zu einer unüberwindbaren Mauer emporwachsen kann, könnte ein Teil des Problems sein. Gegen Schweden wirkte die Auswahl in den ersten 14 Minuten wie gelähmt.

Immerhin bis auf 18:22 kam das tapfer kämpfende Team noch einmal heran, allerdings ist Schweden zu stark, als dass es sich so einen Vorsprung noch nehmen lassen würde. "In dieser Startphase ist das Selbstvertrauen verloren gegangen, das sich die Mannschaft in den Spielen zuvor erarbeitet hatte", sagte Axel Kromer, Sportvorstand im Deutschen Handball-Bund. Auch er war als Beobachter in den zurückliegenden Jahren stets dabei, wenn das Nationalteam nach teils sehr hoffnungsvollen Auftritten in entscheidenden Spielen Nerven zeigte. Diesmal war die Hoffnung so groß wie lange nicht. Deshalb sagte Kromer umso enttäuschter: "Das ist ein Riesen-Nackenschlag."

Im April steht bereits die wichtige Olympiaqualifikation an

Die deutsche Kapitänin Alina Grijseels sagte hinterher nüchtern: "Wir haben gesehen, dass wir bis zur Weltspitze noch ein paar Schritte zu gehen haben." Trotzdem behält die Auswahl diesmal das Gefühl, ihren Rückstand zu besagter Elite alles in allem ein wenig verringert zu haben. Eine moderate 28:30-Niederlage gegen den späteren Halbfinalisten Dänemark im letzten Gruppenspiel der Hauptrunde und die letzte Netto-Dreiviertelstunde gegen Schweden festigten zumindest den Eindruck, dass die Deutschen mit Spitzennationen über weite Strecken mithalten können. Noch aussagekräftigere Duelle mit den absoluten Topteams Frankreich und Norwegen gab es diesmal allerdings nicht.

Und so müssen die deutschen Spielerinnen weiter daran arbeiten, zwischenzeitliche Aussetzer zu minimieren und Rückschläge im Spiel noch radikaler auszublenden. Kromer sagt ganz grundsätzlich: "Mit der Tendenz des Teams sind wir zufrieden." Im April steht ein Olympia-Qualifikationsturnier bevor, in zwölf Monaten eine EM und im Dezember 2025 die WM in Deutschland und den Niederlanden. Es bleiben zwei Jahre, um weiter auch an den mentalen Herausforderungen zu arbeiten.

Und die Weltspitze? Sie formt sich auch bei dieser WM aus den drei skandinavischen Mannschaften Norwegen, Schweden und Dänemark sowie aus Frankreich. Diese Nationen machten zuletzt alle Titel unter sich aus. Die Norwegerinnen sind amtierende Welt- und Europameisterinnen, die Französinnen die Olympiasiegerinnen.

Es obliegt Bundestrainer Markus Gaugisch, das Potenzial des Nationalteams weiter zu heben - und dabei die womöglich tiefer sitzende Furcht zu tilgen, in entscheidenden Spielen zu versagen. Die ominösen 14 Minuten fand Gaugisch auch am Donnerstag noch "schwer zu fassen". Das sei auch für die Analyse eine "sehr komplexe Situation". Offensichtlich war: "Wir haben komplett die Lockerheit verloren, haben kaum einen Zweikampf gewonnen, und keine Maßnahme hat gefruchtet." Daraus müsse man lernen. Gaugisch bilanzierte: "Wir dürfen nicht in Selbstmitleid verfallen, es wird uns hoffentlich noch stärker machen." Die Chance zur Rehabilitation besteht immerhin sofort, in der Platzierungsrunde, im Vorprogramm der Weltbesten - wieder einmal.

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