Fazit der Handball-EM:Cinderella braucht ein Bier

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Österreich wirft Spanien raus, wirklich? Lukas Hutecek (links) jubelt in den Armen von Tobias Wagner. (Foto: Wolfgang Rattay/Reuters)

Volle Hallen, forsche Experten, unerwartete Flops - und zwei kleine Handballnationen, die sich selbst und alle anderen überraschen: das Fazit zu dieser Handball-EM in Deutschland zum Finalwochenende.

Von Carsten Scheele und Ralf Tögel, Köln

Die Handball-Europameisterschaft steuert ins Finalwochenende, und der Deutsche Handballbund (DHB) darf schon jetzt konstatieren: Hat doch alles bestens funktioniert. Vereinzelt gab es Problemchen, zwei Lokführerstreiks mitten im Turnier hätten nicht sein müssen, zumal die Deutsche Bahn gar als Mobilitätspartner des Turniers auftrat. Ansonsten: volle Hallen, hohe Qualität, zufriedene Spieler, und anders als beim vergangenen EM-Turnier spielte auch Corona keine Rolle mehr. Zeit für ein positives Fazit.

Die Stimmung

Die Mannschaft kämpft - immer. Die Fans kämpfen fast immer mit - wenn sie nicht gerade feiern. (Foto: Ina Fassbender/AFP)

Volle Hallen gibt es auch bei Turnieren in anderen Ländern, in Schweden, Polen oder Ungarn, wenn der jeweilige Gastgeber spielt. Aber dass die Arenen bei allen anderen Partien mindestens sehr gut besucht sind, das gibt es nur in Deutschland. 54 000 in Düsseldorf, fast 20 000 in Köln, 15 000 in Berlin, 12 000 in der Münchner Olympiahalle - diese EM hat einige Rekorde gebrochen, nicht nur mit dem Weltrekordauftakt im Düsseldorfer Fußballstation. Mehr als eine Million Fans in den Hallen sind neue EM-Bestmarke.

Einmal gab's Aufregung in Köln, als betrunkene Fans aus Kroatien Getränkebehälter in Richtung der französischen Mannschaft warfen. War aber schnell erledigt und blieb ein Einzelfall. "Wir wussten, dass dieses Turnier besonders schön wird, weil Deutschland es immer hinkriegt", sagte Dänemarks Coach Nikolaj Jacobsen. Auch Frankreichs Coach Guillaume Gille berichtete von "unglaublichen" Erfahrungen: "Ich bin stolz auf unseren Sport, ein solches Turnier auszurichten."

Die Überraschungen

Die Fans der Färöer sind weit gereist, um ihr Team in Berlin zu unterstützen. (Foto: Andreas Gora/dpa)

Die weiße Wand von Berlin wird ihren Platz in jedem Turnierrückblick finden. Gemeint sind die mehr als 5000 angereisten Fans von den Färöern, ein Zehntel der Landesbevölkerung - ein weiterer Weltrekord, wenn man so will. Die Färinger wussten das 26:26 gegen Mitfavorit Norwegen gebührend zu feiern auf einer eigens eingerichteten Fanmeile nahe der Berliner Arena. "Es ist unglaublich. Ohne sie wäre all das nicht möglich", sagte Mittelmann Elias Ellefsen á Skipagotu.

Sportlich lieferten die Österreicher die schönste Cinderellageschichte. Der sich ewig selbst verzwergende Nachbar aus den Alpen überraschte diesmal alle: Erst beförderte Österreich in Spanien einen der Topfavoriten aus dem Turnier, dann beinahe auch Deutschland, das gerade so ein Unentschieden rettete. Erst die Niederlage gegen Island brachte das Aus, was die Alpenrepublikaner gelassen nahmen, wie Spielmacher Lukas Hutecek wissen ließ: "Wir sind durch das Turnier geflogen, es hat Spaß gemacht. Jetzt trinken wir erst mal ein Bierchen, dann kommen wir wieder."

Die Experten

Der 2007er Weltmeister "Mimi" Kraus (vorne) hatte während der EM zwar keine offizielle Funktion, aber trotzdem was zu sagen. (Foto: Tom Weller/dpa)

Dominik Klein und Johannes Bitter in der ARD, Markus Baur und Sven-Sören Christophersen im ZDF: An rhetorisch begabten früheren Nationalspielern, die profund und humorvoll über die Spiele berichten, mangelt es dem deutschen Handball garantiert nicht. Kein Geheimnis ist auch, dass es hinter diesem Quartett eine Gruppe weiterer Granden gibt, die sich den Job in der Fernseh-Primetime gut vorstellen könnten, aber nicht zum Zuge kommen.

Dass sich gleich drei von ihnen in einem Podcast verabreden, Stefan Kretzschmar, Pascal Hens und "Mimi" Kraus, und über den deutschen Mittelmann Juri Knorr herziehen, war schon seltsames Timing. Worte wie "Selbstmordkommando" und "Harakiri" fielen über Knorr, der zugab, dass ihn das Gesprochene "sehr getroffen" habe. Doch es gab eine Aussprache zwischen Knorr und Kretzschmar, die Knorr so zusammenfasste: "Es ist alles persönlich geklärt. Handball ist eine große Familie, in der man sich Dinge sagen darf, sich dann aber auch wieder in die Augen schauen kann."

Die Torhüter

Einer der Besten bei dieser EM: Deutschlands Torwart Andreas Wolff. (Foto: Martin Meissner/AP)

Ohne starke Torhüter geht nichts im Handball, an dieser Weisheit gibt's auch nach dieser EM nichts zu rütteln. Manch einer überraschte trotzdem, so hatte der Österreicher Constantin Möstl bis zum Finalwochenende die meisten Bälle gehalten, 81 Paraden bei 229 Würfen - dicht gefolgt vom starken deutschen Keeper Andreas Wolff. Die beste Quote aller Torsteher hatte der Däne Emil Nielsen, 40 Prozent gehaltener Bälle, was in einem einzelnen Spiel schon mal vorkommt, über ein langes Turnier hinweg aber ein Wahnsinnswert ist. Das Gemeine für alle anderen: Wenn dieser Nielsen mal rausging, stellten die Dänen halt ihren Welthandballer Niklas Landin in die Kiste. Der Preis fürs stärkste Duo ging definitiv an die Skandinavier.

Die Flops

Raus nach der Vorrunde? Spaniens Joan Cañellas kann es nicht fassen. (Foto: Uwe Anspach/dpa)

Natürlich die Spanier. Der Europameister von 2018 und 2020, bei der vergangenen EM erst im Finale von Schweden knapp bezwungen - und nun? Zehn-Tore-Klatsche gegen Kroatien im ersten Spiel und die schmachvollere Heimreise nach der Vorrunde nach dem Remis gegen Österreich. Entsprechend groß war der Furor in der Heimat, die Presse sprach von einer "Schande", dem schlechtesten Auftritt der vergangenen Jahre. Immerhin sind die Iberer, die große Namen wie die Dujshebaev-Brüder und Torhüter Gonzalo Pérez de Vargas in ihren Reihen haben, nach WM-Platz drei in einem der drei Olympia-Qualifikationsturniere dabei. Bei einer Leistungssteigerung ist ein Wiedersehen in Paris möglich.

Nicht einmal das haben die Isländer geschafft. Der Geheimfavorit, gespickt mit Topspielern wie Aron Palmarsson, Omar Ingi Magnusson und Gisli Kristjansson, quälte sich nach einem glücklichen Remis gegen die Serben in die Hauptrunde. Dort setzte es zwei Niederlagen gegen Deutschland und Kroatien, der Heimflug war vorzeitig gebucht. Platz zehn ist viel zu wenig für dieses Team der Hochtalentierten, die überdies die Chance auf Olympia verspielt haben.

Die Brocken

Massig und extrem flink: Dänemarks Torwart Emil Nielsen. (Foto: Odd Andersen/AFP)

Jannik Kohlbacher zum Beispiel: breites Kreuz, 110 Kilogramm Muskeln auf 1,93 Meter Größe verteilt, kein Gramm Fett. Das ist die Grundvoraussetzung für einen Handballer, möchte man meinen, aber es geht auch anders: Tobias Wagner etwa: Der österreichische Kreisläufer bringt offiziell 130 Kilo auf die Waage, verteilt auf 1,98 Meter Körperlänge, da spannt sogar das XXL-Trikot um die Hüften. Als Kreisläufer muss man allerdings auch weniger laufen, vielleicht ist dies die Erklärung, dass es einige dieser Büffel in vorderster Angriffsreihe gibt: den Nordmazedonier Zarko Pesevski (1,95 Meter, 125 Kilo), den Slowenen Matic Suholeznik (2,02 Meter, mehr als 130 Kilo) oder den Polen Kamil Syprzak (2,07 Meter, mehr als 130 Kilo).

Auch im Tor sind, im Gegensatz zu austrainierten Lulatschen wie dem Dänen Niklas Landin, ein paar der überdimensionierten Körper zu finden. Serbiens Dejan Milosavljev ist immerhin 1,96 Meter groß, muss aber auch 135 Kilo in Bewegung bringen. Noch auffälliger, weil öfter im Brennpunkt des Geschehens, ist Emil Nielsen; der dänische Torhüter ist offiziell 125 Kilogramm schwer und 1,95 Meter groß, aber trotzdem extrem schnell und beweglich. Gewicht steht Weltklasse im Handball nicht im Weg.

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