Handball-EM:Mit der Liebe aus ganz Dänemark

Lesezeit: 3 min

"Ich habe das Gefühl, dass ich derzeit den Handball meines Lebens spiele", sagt Mathias Gidsel, hier gegen Norwegen. (Foto: Cathrin Mueller/Reuters)

Einen wie ihn gibt es nicht oft: Mathias Gidsel verkörpert die modernste Form des Handballs. Schon jetzt stehen die Dänen im Halbfinale - wer soll sie noch aufhalten? 

Von Saskia Aleythe, Hamburg

In Hamburg liegt dieser Tage eine kleine Parallelwelt. Wer einen Eindruck davon bekommen wollte, der konnte in den vergangenen Tagen in der Handballhalle neben dem HSV-Stadion vorbeischauen: Da standen am Sonntag Tausende Fans in Rot gekleidet, bemalt und behangen, und sangen mit Inbrunst und in aller Deutlichkeit ihre Hymne. Unten die Handballer vor ihrem Duell gegen Norwegen, auf den Rängen der Gesang aus gut gelaunten Kehlen. Wie viele Dänen wohl dort waren, lässt sich in Zahlen schlecht auffangen, gefühlt waren es: alle. Als würde diese EM nicht in Deutschland stattfinden, sondern 160 Kilometer weiter im Norden.

Sorgen muss sich also niemand machen, dass abseits der deutschen Hauptrundengruppe in Köln im Land nichts los wäre: Nur rocken in Hamburg die Dänen. "Wir sind glücklich und dankbar, dass so viele dänische Fans hier sind, wir fühlen uns wie zu Hause", sagt Mathias Gidsel, Rückraumspieler beim aktuellen Weltmeister. Beim Einlaufen wurden die Spieler zum Song "I Was Made for Lovin' You" begrüßt, am Ende konnten sie beseelt einschlafen: Als Favorit in diese EM gestartet, sind die Dänen mit einem 29:23-Erfolg gegen Norwegen vorzeitig ins Halbfinale gezogen. Sechs Spiele, sechs Siege, da muss die Frage erlaubt sein: Wer bitte soll diese Mannschaft schlagen?

SZ PlusDeutschland bei der Handball-EM
:Plötzlich zittern die Hände

54 Würfe, nur 22 Treffer: Die deutschen Handballer müssen die schweren Defizite im Angriffsspiel abstellen, wollen sie ihre Chance auf das Halbfinale wahren. In der Frage, wie groß die Formdelle ist, herrscht unter den Spielern Uneinigkeit.

Von Carsten Scheele

Die Dänen selbst stellen sich diese Frage nicht, warum auch: Ihr Selbstbewusstsein ist enorm. Eine enge Partie haben sie glücklich überstanden, das 28:27 gegen die Schweden, sonst gab es reihenweise deutliche Siege gegen Tschechien, Griechenland, Portugal, die Niederlande und eben Norwegen. Und nach einem Anpfiff an seine Mannschaft wegen der kleinen Fehler gegen Schweden konnte Trainer Nikolaj Jacobsen es sich sogar leisten, seinem Ausnahmekönner Mikkel Hansen mitten im Turnier fast ein ganzes Spiel Pause zu geben. Lediglich für zwei Strafwürfe kam Hansen, mittlerweile 36, gegen Norwegen zum Einsatz. Eine Luxussituation, die die Stärke des dänischen Kaders unterstreicht: Da gibt es eine Menge Ausnahmekönner. Das Team kommt auf 73 Prozent verwandelte Würfe, das ist die beste Quote aller Mannschaften. Auch das Torwartduo aus Niklas Landin und Emil Nielsen ist bei den gehaltenen Bällen das beste im ganzen Turnier.

Besonders geprägt hat die Spiele bei dieser EM bisher aber Mathias Gidsel. Der 24-Jährige erlebt schon wieder so ein Turnier, das ihm keine Grenzen zu setzen scheint. Hauptberuflich ist Gidsel Handballer bei den Füchsen Berlin, im Sommer 2022 wechselte er aus Dänemark in die Bundesliga und stand dort nach den Ausfällen von Paul Drux und Fabian Wiede auf dem Feld, wann immer es ging. Aktuell ist er zweitbester Torjäger der Liga. Im Späti in Prenzlauer Berg würde Gidsel kaum auffallen, beim Handball tut er das sehr wohl: Mit 42 Toren ist er Dänemarks Toptorschütze, mehr als fünf Stunden hat er schon bei dieser EM gespielt, länger als jeder andere im Team. "Ich habe das Gefühl, dass ich derzeit den Handball meines Lebens spiele", sagte Gidsel noch vor EM-Start im dänischen Radio, und man kann konstatieren: Es sieht ganz danach aus.

Gidsel verkörpert dabei einen Handball, der heute alles auf einmal sein will: schnell und wendig, gleichzeitig brachial und gewieft. Brauchte es früher noch flinke Außenspieler oder Kreisläufer für die Kontertore, ist der Rückraumspieler Gidsel alles in einem: derjenige, der durch die kleinste Lücke in der Abwehr huscht oder aber den Ball über sie hinweg in die Maschen jagt. Aber auch derjenige, der die Bälle beim Verteidigen aus den Händen der Angreifer fischt und selber mit hohem Tempo durch die Halle stürmt und verwandelt. Einen wie ihn gibt es nicht oft: Für einen Rückraumspieler ist Gidsel ungewöhnlich schmächtig. Und doch so schwer zu verteidigen, wenn er seine Körpertäuschungen macht und nach einem schnellen Schritt nach links plötzlich doch rechts durch die Lücke zischt.

Zweimal WM-Gold hat er geholt, der EM-Titel für Dänemark ist länger her

Es gibt nicht wenige, die in Gidsel derzeit den besten Handballer der Welt sehen. In den vergangenen Jahren wurde er mehrmals ins All-Star-Team bei den großen Turnieren gewählt, bei der WM 2023 sogar zum wertvollsten Spieler. Eine Auszeichnung, für die er sich gerade wieder empfiehlt. In den dänischen Medien steht er deswegen enorm im Fokus. Viel Druck für einen jungen Handballer, doch Gidsel sagt, er kann damit umgehen: "Ich bin selbst mein größter Kritiker." Und wenn es am Dienstag (18 Uhr) gegen Slowenien ins letzte Gruppenspiel geht, würde er auch wieder über die volle Distanz bereitstehen. "Ich würde lügen, wenn ich sagen würde, dass die Duracell-Batterie nicht ein wenig leer ist", sagte er am Sonntag in Hamburg, aber um eine Pause bitten will er seinen Trainer nicht, das kommt für den Ehrgeizling nicht infrage. "Niemals!"

Zweimal WM-Gold hat Gidsel schon zu Hause hängen, das letzte Gold bei einer Europameisterschaft gab es für Dänemark 2012. Lange her und auch ein Grund, warum Trainer Nikolaj Jacobsen, einst lange beim THW Kiel, bei dieser EM vielleicht noch energischer auftritt als sonst. Fehler leistet man sich als Spieler unter ihm besser nicht, sonst wird man von Jacobsen minutenlang zusammengefaltet. Die Fans lieben ihn trotzdem.

Klar ist schon jetzt, dass die Dänen durch den Spielplan einen Tag mehr Erholung haben werden als ihr noch zu ermittelnder Halbfinalgegner. Ein Vorteil, der einigen Fans am Sonntag gute Laune bereitete: Im Bus nach Hause nach dem Spiel machten Gesänge die Runde, die sie in Köln vielleicht besser nicht singen: "Deutschland, Deutschland, alles ist vorbei."

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

SZ PlusHandball-EM
:Mehr Fragen als Antworten

Die deutschen Handballer schaffen dank Glück und Torwart Wolff gegen starke Österreicher ein schmeichelhaftes 22:22. Nun darf sich die DHB-Auswahl keinen Patzer mehr leisten - und benötigt für das angepeilte Halbfinale Schützenhilfe.

Von Ralf Tögel

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: