SZ: Herr Altintop, ist das nicht unfair, dass die Türkei in der EM-Qualifikation ein Heimspiel mehr hat als alle anderen?
Hamit Altintop: Ich hab mich auch erst gewundert, als bekannt wurde, dass der DFB das Spiel nach Berlin vergeben hat, wo so viele Türken leben. Aber eigentlich ist das ja eine tolle Idee: In der Stadt wird die ganze Woche eine Menge los sein. Und ich hoffe, dass die Fans auch das Spiel zum Fest machen.
SZ: Erwarten Sie ein Heimspiel?
Altintop: Ich denke, dass es so ähnlich sein wird wie im EM-Halbfinale in Basel. Das Verhältnis wird auch diesmal etwa fifty-fifty sein. Aber von der Lautstärke her dürften unsere Fans etwas leidenschaftlicher sein.
SZ: Die türkischen Anhänger erwarten ja traditionell große Erfolge von ihrer Nationalelf, die aber als etwas wankelmütig gilt. Der neue Trainer Guus Hiddink hat sich mehr Konstanz zum Ziel gesetzt. Trauen Sie ihm das zu?
Altintop: Herr Hiddink ist ein erfahrener Stratege und Fachmann, er weiß, dass türkische Fußballer eine hohe Qualität haben und dass eben manchmal Disziplin und klare Linie gefehlt haben. Er hat sich vorgenommen, das zu ändern. Und wir haben uns geschworen, dass das unter dem neuen Trainer besser wird.
SZ: Kann die Türkei mit dem neuen Trainer die Qualifikations-Gruppe vor Deutschland gewinnen?
Altintop: Wir sind gut, aber die Wahrheit lautet auch: In der türkischen Liga hat man im Jahr vielleicht zehn Spiele auf höchstem Niveau, in Deutschland gibt es solche Spiele jede Woche. Für junge Spieler wie Thomas Müller oder Holger Badstuber wird es in ein, zwei Jahren normaler Alltag sein, eine EM-Qualifikation oder ein Turnier zu spielen. Für die türkischen Müllers und Badstubers ist es das nicht. Wir haben diese Talente auch, aber man muss sie fordern und fördern, und der Aufbau solcher Nachwuchsstrukturen dauert 20 Jahre.
SZ: Wie viele von diesen 20 Jahren hat die Türkei schon hinter sich?
Altintop: Ich würde sagen: die Hälfte. Das ist nicht schlecht, aber ich finde es wichtig, dass man realistisch ist und unseren Fans auch ehrlich sagt, dass bei so einer Entwicklung kleine Rückschläge dazugehören. Deshalb: Wir dürfen uns ruhig das Ziel setzen, die Gruppe zu gewinnen, und ich bin auch optimistisch, dass wir das schaffen können. Aber wir sollten es nicht erwarten.
SZ: Wie sehr fehlt der türkischen Elf Mesut Özil?
Altintop: Ich fand es sehr interessant, die türkischen Reaktionen während der WM zu verfolgen. Einerseits haben die Türken sich geärgert und auch geschimpft, weil Mesut sich für Deutschland entschieden hat. Auf der anderen Seite waren die Leute auch ein bisschen stolz, wenn positiv über Mesut berichtet wurde. Nach dem Motto: Einer von uns ist jetzt bei Real Madrid!
SZ: Am Freitag werden beim Länderspiel zwischen Deutschland und der Türkei einige Spieler aufeinandertreffen, die auch fürs jeweils andere Land hätten spielen können. Haben Sie denn erwartet, dass sich Özil für den DFB entscheidet? Oder haben Sie gehofft, dass er wie der Dortmunder Nuri Sahin für die Türkei antreten will?
Altintop: Ich weiß, wie es in Mesut ausgesehen hat, ich habe einen guten Draht zu ihm und vor seiner Entscheidung habe ich auch oft mit ihm gesprochen. Ich kenne ja auch andere Fälle und weiß, dass es heutzutage einfach um die Perspektive geht, um die Frage: Bei welchem Verband kann ich mehr erreichen, wo kann ich mich besser entwickeln? Fußball ist manchmal eine Herzensangelegenheit, aber viel öfter einfach ein Business.
SZ: Mit anderen Worten: Özil hat sich vor allem für die Karriere entschieden.
Altintop: Als deutscher Nationalspieler hat Mesut mehr Lobby, einen höheren Marktwert, er verdient mehr Geld. Hätte er sich für die Türkei entschieden, hätte er keine WM gespielt und wäre jetzt nicht bei Real Madrid. So einfach ist das.
SZ: Das heißt: Die Entscheidung für ein Land folgt inzwischen einer ähnlich kühlen Logik wie ein Vereinswechsel.
Altintop: Ich respektiere solche Entscheidungen, aber wenn Sie mich fragen, ob ich Freund davon bin, dann sage ich: nein. Entschuldigung, aber ich finde, das hat auch nichts mit Integration zu tun.
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Nuri Sahin leitet den Dortmunder Kinderriegel an, Mario Gomez trifft einfach nicht mehr und ein Mainzer Mittelfeldspieler ist Bundestrainer Joachim Löw der Eintritt alleine wert. Die Elf des Spieltags.
SZ: Weil es Ihrer Ansicht nach kein Beitrag zur Integration ist, wenn man eine reine Business-Entscheidung trifft?
Altintop: Es heißt doch "Länder"-Spiel, man hört die Hymne, und da spielt man doch für das Land, dem man sich zugehörig fühlt. Ich bin Deutschland sehr, sehr dankbar, ich habe hier sehr viel gelernt und sehr viele Chancen bekommen. Aber meine Mama kommt aus der Türkei, mein Vater kommt aus der Türkei, ich bin Türke.
SZ: Können Sie sagen, was an Ihnen türkisch ist und was deutsch?
Altintop: Zunächst mal glaube ich, dass wir heutzutage alle Europäer sind, und unsere gemeinsame Sprache ist - in Anführungszeichen - europäisch. Und innerhalb dieses Gesamteuropas hat dann jeder seine eigene Welt - die ist bei mir eben türkisch. Wenn ich bei meiner Mama bin, dann bin ich drin in dieser Kultur: wie man empfangen wird, wie man verabschiedet wird, wie man isst und trinkt. Meine Mama hat 24 Stunden am Tag Tee aufgesetzt. Und ich glaube, dass ich auch emotional ein Südländer bin: Ich kann mich noch erinnern, wie ich bei Schalke unter Herrn Rangnick das erste Mal nicht von Anfang an gespielt habe. Ich konnte das nicht einfach einordnen. Ich hatte ein Problem damit, weil ich es persönlich genommen habe. Irgendwann habe ich dann begriffen: Hey, es gibt hier mehrere Spieler, es gibt hier auch Taktik, das hat alles nichts mit dir zu tun.
SZ: Für Sie ist Ihr Land also weniger mit Politik oder Geographie verbunden, sondern mehr mit Familie und einem bestimmten Lebensgefühl.
Altintop: Genau so ist es. Ich bin so aufgewachsen, so erzogen worden, ich kann nicht einfach wechseln. Da unterscheiden sich das Private und das Business.
SZ: Kennt Mesut Özil Ihre Meinung?
Altintop: Ja, aber das ändert nichts zwischen uns. Ich mag Mesut immer noch sehr gerne. Ich werde nie vergessen, wie er als 16-Jähriger zum ersten Mal bei uns auf Schalke mittrainiert hat, seitdem mögen wir uns, er ist immer noch sehr angenehm, immer noch lustig. Er ist nicht nur ein Freund, er ist wie ein Bruder.
SZ: Schon eine seltsame Situation: Sie sind beide Schalker Jungs...
Altintop: ... ich kenne übrigens auch den "Affenkäfig", diesen Bolzplatz, auf dem Mesut als Junge immer gekickt hat. Der wurde ja während der WM immer gezeigt. Ich hab' da auch schon gebolzt.
SZ: Und jetzt spielen die beiden türkischen Jungs aus dem Affenkäfig für unterschiedliche Länder.
Altintop: Ich bin ein toleranter Mensch und respektiere Mesuts Weg, aber unterstützen kann ich ihn nicht.
SZ: Haben Sie mal versucht, ihn zu beeinflussen?
Altintop: Ich habe mit ihm gesprochen, das schon. Ich habe ihm gesagt: Pass auf, die Türkei will dich unbedingt haben, die wollen, dass du für dein Land spielst. Aber ich habe nicht ein einziges Mal gesagt: Du sollst! Das könnte ich gar nicht verantworten: Stellen Sie sich vor, er kommt bei uns aus irgendwelchen Gründen nicht zurecht, dann wird er natürlich sagen: Der Hamit, der Depp, hat mich überredet. Aber ich will ja gar niemanden überreden: Ich finde, dass es einem von vornherein klar sein muss, für wen man spielt - egal, ob man eine Einladung bekommt, egal, ob die Perspektiven besser oder schlechter sind. Es geht hier nicht um einen Vereinswechsel, diese Tendenz gefällt mir gar nicht. Es geht um die Fahne auf der Brust.
SZ: Das heißt: Auch wenn Sie zehn Jahre jünger wären, würden Sie sich gegen diese junge, wachsende, aussichtsreiche deutsche Mannschaft entscheiden.
Altintop: Das wäre kein Kriterium für mich, ich würde immer für die Türkei spielen.
SZ: Sie sind ein Romantiker, Hamit!
Altintop: Ja, ist doch schön, oder? Ich finde, es muss auch noch ein paar Spieler geben, die Zeichen setzen, die sich für das vermeintlich schwächere Land entscheiden. Es ist zwar traurig, aber es ist halt wie im normalen Leben auch: Im Zweifel neigen die jungen Leute dazu, die leichtere Entscheidung zu treffen. Heute wechseln schon 12-Jährige für viel Geld zu großen Vereinen, die wachsen früh mit dieser Logik auf: Ich gehe dahin, wo's für mich am besten ist. Die sind sehr früh sehr abgebrüht.
SZ: Sprechen Sie mit den Nürnbergern Ilkay Gündogan und Mehmet Ekici, die zurzeit für die deutsche U21 spielen, aber auch von der Türkei umworben werden?
Altintop: Da gilt das Gleiche, was ich bei Mesut gesagt habe. Ich finde Gespräche wichtig, aber das Entscheidende ist, dass junge Spieler von ihrer Entscheidung selbst überzeugt sind. Wenn man jemanden erst mit viel Kraft und viel Energie überzeugen muss, dann fürchte ich, dass man den auch nur mit viel Kraft und Energie motivieren kann.
SZ: Müssen Nationen wie die Türkei fürchten, dass diese auffällige deutsche WM-Leistung wankelmütige Spieler in Richtung DFB beeinflusst?
Altintop: Das ist definitiv so. Die Deutschen haben ihre Mannschaft bei der WM ja auch gut als Integrations-Mannschaft verkauft, und ich kann mir schon vorstellen, dass der ein oder andere wankelmütige Spieler jetzt denkt: Bei den Deutschen fühl' ich mich gut aufgehoben. Das ist auch völlig okay. Aber Integration ist für mich eher, wenn das Spiel am Freitag von den Fans beider Mannschaften zum Fest gemacht wird.