Gladbach gewinnt beim Hamburger SV:Der HSV verzweifelt an sich selbst

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Der Hamburger SV verliert zu Hause gegen Borussia Mönchengladbach 0:1 und bleibt Tabellenletzter. Ein Freistoß führt wieder zum entscheidenden Gegentor. Bei den Zuschauern bleibt die Revolte zwar aus, dennoch fragt sich Hamburg: Was wird aus Trainer Michael Oenning?

Thomas Hummel

Lotto King Karl sang wieder sein wunderbares Einstimmunglied zu Beginn. Zu "Hamburg meine Perle" hielten die Hamburger ihre Schals in die Höhe und stimmten inbrünstig an: "Wenn ich weit, weit weg bin, ob bei Juve oder Rom, dann denk ich Hamburg meine Perle und singe: home sweet home!"

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Ein Wolkenbruch lässt die Spieler aus Nürnberg und Bremen über den Rasen rutschen, Torwart Tim Wiese stellt sich praktisch selbst vom Platz. Bei Wolfsburg wird aus dem Feldspieler Hasebe der Torwart Hitz und auch in Berlin und Leverkusen zeigen Schiedsrichter Rot.

Bilder zum Spieltag

Tatsächlich hat die Hansestadt Hamburg einiges zu bieten, was mit Turin und sogar Rom locker mithalten kann. Doch für einen Fan des ansässigen HSV spielt das in naher Zukunft sowieso keine Rolle mehr, denn zumindest mit seinem Verein wird er die Landesgrenzen so schnell nicht mehr verlassen. Auch wenn King Karl in seinem Lied textet, dass Menschen aus Cottbus eigentlich aus Polen kommen.

Die Polen aus Cottbus kicken in der zweiten Liga und einigen Hamburgern erscheint der erste Abstieg aus der Fußball-Bundesliga seit der Gründung 1963 gar nicht mehr so abwegig. Am Samstag verlor der Hamburger SV 0:1 gegen den neuen Tabellen-Zweiten Borussia Mönchengladbach, der HSV bleibt damit mit einem Punkt aus sechs Spielen am anderen Ende stecken. In einer zähen Partie, in der beide Mannschaften stark auf Sicherheit geeicht waren, fiel das Gegentor des HSV aus einer Standardsituation, Ivan de Camargo köpfte das 1:0 nach 66 Minuten und holte für die Gäste die drei Punkte. Das war dem Team schon zweimal in Bremen passiert beim 0:2.

Sportdirektor Frank Arnesen äußerte sich erstmals in dieser Saison mit strengem Ton: "Ich bin heute enttäuscht über unsere Leistung. Wir haben zu wenig gebracht nach vorne." Dennoch garantierte er, dass der schwer kritisierte Trainer Michael Oenning auch am Freitag in Stuttgart noch die Mannschaft betreuen wird. Allerdings erhöhte er den Druck: "Da ist Michael Oenning zusammen mit der Mannschaft in der Pflicht." Ein Endspiel für den Trainer also in Stuttgart?

In den Tagen vor dem Spiel gegen Mönchengladbach hatte sich Hamburg gefragt: Ist das wirklich Michael Oenning? Der Trainer, der mit dem Hamburger SV den schlechtesten Saisonstart der Klubgeschichte hingelegt hat. Oenning wirkte ruhig und sachlich, keineswegs gestresst oder sich in Durchhalte-Aussagen flüchtend. Ob das denn schon ein Endspiel für ihn sei, wurde er vor dem Spiel gefragt: "Wir benutzen ganz andere Worte. Die Mannschaft ist absolut willig und hat auch Zukunft. Wir gehen den Weg der ganz kleinen Schritte, aber natürlich müssen die Schritte größer werden."

Dabei war das Entsetzen der Fans und Beobachter über das schlechte Spiel der Mannschaft schon Häme und Spott gewichen. Bei einem Testspiel am Dienstag gegen den Landesligisten Concordia Hamburg verhöhnten einige Fans Torwart Jaroslav Drobny lautstark und andauernd. Und im Internet schreibt ein Unbekannter weiterhin unter dem Namen Michael Oenning satirische Botschaften. Die letzte vor der Partie gegen Mönchengladbach hieß: "Kritik prallt mindestens so weit von mir ab, wie der Ball von Petric' Fuß."

Vom Fuß von Mladen Petric prallte zunächst kein Ball ab. Petric musste den bedauernswerten Job des Stürmers verrichten und hielt sich demnach in einem Raum auf, der für den Ball gesperrt schien. Nach 16 Gegentoren in fünf Partien legte Oenning großen Wert darauf, diesmal das eigene Tor zu schützen. So ließ er die Offensivspieler Heung-Min Son und Gökhan Töre auf der Bank, Paolo Guerrero war ohnehin verletzt. Per Skjelbred sollte Petric vorne unterstützen, wuselte auch eifrig umher, verlor aber jeden Ball. Da die rechte HSV-Seite unbesetzt war, sollte Marcell Jansen von links die Flanken schlagen. Der frühere Gladbacher brachte aber nur die biertrinkenden Fans hinter dem Fangnetz in Gefahr.

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Dafür rannten die Hamburger fast panisch zurück, wenn sie den Ball verloren. Nur ja kein 0:5 mehr, kein 3:4, auch kein 0:2. Und Mönchengladbach? Spielte wie immer unter Trainer Lucien Favre. Seitdem der Schweizer bei der Borussia arbeitet, hat sie in 17 Partien nur zwölf Gegentreffer erhalten. In der ersten Halbzeit hielt nur der Gladbacher Torwart Marc-André ter Stegen einen Schuss, ein Freistoß von Petric flog in seine Richtung. Gegenüber Drobny war arbeitslos wie sonst nur Manuel Neuer beim FC Bayern.

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Die 55.000 Zuschauer (eine sagenhafte Zahl für dieses Spiel) reagierten, als hätten sie ein Entspannungswochenende unter freiem Himmel gebucht. Sie grummelten, bisweilen stöhnten sie, in der Halbzeit pfiffen auch ein paar. Aber von offener Revolte keine Spur. Immerhin, sie waren zu Hause im eigenen Stadion, in der eigenen Stadt, home sweet home. Wer wird denn da aufbegehren?

Und immerhin: Nach der Pause sahen die 55.000 endlich ein Fußballspiel, sogar mit Offensivaktionen. Zuerst trauten sich die Gäste aus der Deckung, Drobny musste gleich gegen Ivan de Camargo retten (47.), dann grätschte Slobodan Rajkovic in einen Schuss von Juan Arango (48.). Trainer Oenning reagierte darauf mit offensiven Einwechslungen, brachte Gökhan Töre und Heung-Min Son. Später auch den Stürmer Marcus Berg. Das führte plötzlich zu Tempo und Präzision beim HSV und Töres Flanken landeten tatsächlich im Strafraum. Eine davon auf dem Kopf von Robert Tesche, der Gegenspieler Filip Daems aus einem Meter an den Ellbogen köpfte - Schiedsrichter Peter Sippel gab aber keinen Elfmeter.

Es war eine schöne Phase für den Hamburger SV, die Mannschaft zeigte das Potenzial, welches ihr von den Verantwortlichen stets zugeschrieben wird. Doch wer ein Fußballspiel bestehen will, muss eben auch die kleinen Dinge beherrschen, im wahren Sinne die Standards des Abwehrspiels. Wie schon in Bremen flog ein ruhender Ball in den Hamburger Strafraum, wie eine Erscheinung stieg Ivan de Camargo völlig freistehend am Fünfmeterraum hoch und köpfte das 1:0 (66.). Der Stürmer Son hatte sich um ihn kümmern sollen, beließ es aber beim braven Zusehen.

In diesem Moment wich all das Selbstbewusstsein aus den Hamburger Spielern. Der schöne Plan zerstört von einer vermaledeiten Freistoßflanke! Während Mönchengladbach zeigte, warum die Mannschaft nun Tabellenzweiter war. Mit zwei, drei Konterangriffen im höchsten Tempo meist über Marco Reus stürmten die Gladbacher zu Chancen, doch als Arango schon über das 2:0 jubelte, zuckte der Arm von Drobny meisterhaft nach oben (77.).

"Es war klar verdient, es sollte 3:0 sein", klagte Gladbachs Trainer Favre. Sein Kollege Oenning verschwand nach dem Schlusspfiff fast im Laufschritt in der Kabine, später meinte er: "Ich bin maßlos enttäuscht. Wir haben ein ganz wichtiges Spiel verloren." Sein Double auf Twitter schrieb indes: "Morgen ist übrigens Trainingsfrei, muss ich den Jungs heute noch auf die Mailbox sprechen, denn ich erreiche meine Spieler nicht mehr."

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