Türkei gegen DFB-Team:Vom anarchischen Genie zum stabilen Wettkämpfer

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Hakan Calhanoglu mit der Zehn: So kennen die Türken ihren Spielmacher mittlerweile - dabei wurde er in Mannheim geboren. (Foto: Seskimphoto/Imago)

In der Bundesliga galt er als hochbegabter und mitunter zu lässiger Regisseur, jetzt hat sich Hakan Calhanoglu bei Inter Mailand neu erfunden - gegen Deutschland erlebt der Mittelfeldmann eine besondere Begegnung mit einem DFB-Akteur.

Von Thomas Hürner, Hamburg

Man erkennt ihn noch, das schon. Hakan Calhanoglu hat noch denselben Kurzhaarschnitt wie damals, sein Blick wirkt etwas gedankenverloren, und seine Augen senden noch immer eine klare Botschaft aus: Da weiß einer, was er kann, und dieser Fußballer hat sicher nicht vor, das vor irgendwem zu verheimlichen.

Calhanoglu, mittlerweile auch schon 29 Jahre alt, hatte ein ziemliches Imageproblem, als er noch ein junger Bundesliga-Spieler war. Einerseits ahnte jeder, dass dieser hochbegabte Mittelfeldmann nicht ganz zu Unrecht viel von sich hält, was sich übrigens auch mit der Einschätzung so ziemlich aller Trainer der Liga deckte. Andererseits war da diese Sache mit seinem Rücken und mit seinem Oberarm. Auf dem Oberarm hat sich Calhanoglu die 10 tätowiert, was gut passte, denn dafür hat er sich lange selbst gehalten: Für einen Zehner, einen klassischen Spielmacher, dessen Genius so groß ist, dass das seine mitunter aufreizende Lässigkeit überstrahlt.

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Leverkusens Verteidiger hat im vergangenen Jahr eine Karriere gemacht, die ihn selbst erstaunen muss. Aus der Mannschaft des Tabellenführers ist er nicht wegzudenken, nun peilt er die Startelf des Nationalteams an.

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An diesem Samstag spielt Calhanoglu nun mit der Türkei in Berlin gegen Deutschland (20.45 Uhr, Liveticker SZ.de), natürlich wird er dann wieder die 10 auf dem Rücken tragen. Sein Verhältnis zu dieser Nummer hat sich aber verändert, sie steht jetzt weniger für sein Rollenverständnis auf dem Platz, sondern ist eher zu einer Art Statussymbol geworden. Das liegt an dem recht traditionellen Fußballweltbild, das sie in der Türkei haben, der beste Spieler ist entweder Kapitän oder er hat die Zehn. Calhanoglu hat beides, die Binde und die Nummer. Denn für die Türken ist er mehr als nur ihr bester Fußballer. Calhanoglu gilt längst als Volksheld, rundum bejubelt, ein Animateur für leicht beschwingbare Fanherzen.

Calhanoglus Ansehen in der türkischen Heimat, das ist das Spannende, war so nur möglich, weil sie ihm bei seinem aktuellen Verein Inter Mailand die Tattoobotschaft auf dem Oberarm nie recht abgenommen haben. Als die Nerazzurri ihn vom AC Milan in den schwarz-blauen Teil der Stadt holten, als ablösefreien Überläufer im Jahr 2021, da wurde Calhanoglu mit Hass und Häme zum Rivalen verabschiedet. Er hatte da schon geliefert, aber einen echten Führungsanspruch hat ihm niemand zugetraut.

Bei Inter hatten sie sich aber schon einen passgenauen Einsatzplan überlegt: Vielleicht war der Mann, der sich selbst für einen Zehner hielt, ja in Wahrheit gar kein Zehner. Calhanoglu bekam jedenfalls die Rückennummer 20, das war das erste Indiz für das, was folgen sollte. Inter-Coach Simone Inzaghi schob ihn auf dem Platz immer weiter nach hinten und dadurch in der Hierarchie nach oben. Zuerst wurde Calhanoglu als mezzala eingesetzt, in einer laufintensiven Halbposition im Mittelfeld.

Bei Inter spielt Calhanoglu einen deutlich defensiveren Part als zu Beginn seiner Karriere in Deutschland. (Foto: DANIELE MASCOLO/REUTERS)

Inzwischen ist er ein regista, der Stratege vor der Abwehr, das ist eine der höchsten Ehren in italienischen Teams. Calhanoglu sei "zu einem Giganten" herangewachsen, lobte Inzaghi neulich. Der Trainer steht generell im Ruf, in Spielern etwas zu sehen, was sonst keiner sieht - und dem es dann gelingt, diese Fantasie vollumfänglich auszuschöpfen. Calhanoglu hat das für eine geradezu vorbildliche Entwicklung genutzt. Vorbildlich deshalb, weil seine Spielweise zwar immer hübsch anzusehen war, aber er hatte auch einen gelegentlichen Hang zur Lethargie. Mittlerweile ist aus ihm ein stabiler Wettkämpfer geworden.

Für die italienischen Gazetten zählt Calhanoglu längst zu den "fuoriclasse", den besten der Besten also - ein Selbstanspruch, den er schon hatte, als er noch ein etwas traumwandlerischer Spielmacher in der Bundesliga war. "Weltklasse" wolle er werden, so kündigte es Calhanoglu an, als er 2014 vom HSV nach Leverkusen ging. Es war ein von ihm und seinem Berater erzwungener Transfer, der viel verbrannte Erde hinterließ, wie es oft heißt. Calhanoglu war Leverkusens damaliger Rekordeinkauf, etwa 16 Millionen hat er gekostet.

Seine deutschlandweiten Beliebtheitswerte erreichten dafür rekordverdächtige Tiefstände, eine Erfahrung, die er sich nun zunutze macht: In Derbys gegen Milan ist er gellenden Pfiffen und wüsten Beleidigungen ausgesetzt, Calhanoglu saugt alles genüsslich auf. Und er kann es sich leisten, weil er jetzt weiß, wie er italienischen Arbeitsethos mit seinem anarchischen Spiel verbindet: "Calha", wie ihn die Inter-Fans rufen, tritt weiterhin brillante Freistöße und Ecken, aber gehört jetzt auch zu den lauf- und zweikampfstärksten Mittelfeldakteuren Italiens. Jüngst hat er seinen 37. Ligatreffer erzielt, das macht ihn zum erfolgreichsten Serie-A-Torschützen mit türkischem Pass.

"Für unser Vaterland" - 2017 warb er für Erdogans Verfassungsreferendum

In der Türkei erhöhen derlei Statistiken den Stolz auf Calhanoglus Werdegang. Wobei er schon noch weitaus mehr getan hat, um sein nationales Ansehen zu stärken: Calhanoglu, geboren in Mannheim, hat immer nur für die Türkei gespielt, obwohl man ihn in Jugendjahren gern ins DFB-Team integrieren wollte. Und auch politisch hat sich Calhanoglu positioniert, was zumindest in regierungsnahen Kreisen gut ankommen dürfte.

2017 etwa warb er für das Referendum, das Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan die Macht verlieh, die Türkei in seinem Sinne umzubauen. Auf dem Video saß er auf einem Sofa, im Hintergrund war ein Foto von ihm im Trikot der türkischen Nationalelf zu sehen, und Calhanoglu sagte: "Für unser Vaterland, für unser Volk, für unsere große Türkei bin ich auch dabei." Solche Sätze waren von Calhanoglu immer wieder mal zu hören, zuletzt vor dem Champions League-Finale 2023 mit Inter gegen Manchester City.

Da war er gefragt worden, wie er den Stellenwert des damaligen City-Spielers Ilkay Gündogan in der Türkei einschätze, auch der hat ja türkische Wurzeln. Calhanoglu sagte: "Er spielt für Deutschland, ich für die Heimat. Ich denke, für unsere Leute ist es wichtiger, dass ich gewinne." Am Ende gewann Gündogan mit 1:0. Am Samstag sehen sie sich nun wieder, zum Handshake vor dem Spiel. Gündogan, geboren in Gelsenkirchen, als Kapitän des DFB-Teams. Und Calhanoglu als Kapitän der Türkei.

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