Fußball-WM in Russland:Der falsche Neymar

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Kann wieder mit Ball lachen: Brasiliens Fußballer Neymar. (Foto: AFP)
  • Weil Brasiliens bester Fußballer Neymar weiter verletzt fehlt, erfreuen sich die Brasilianer an einem Double des Stürmers.
  • Doch die Sorgen um den echten Neymar sind groß - schafft er es fit zur Fußball-WM?

Von Boris Herrmann, Teresópolis

Aha, da kommt er ja endlich: frisch frisiert, Sonnenbrille, zwei Brillanten an jedem Ohrläppchen, Lederjacke, Jogginghose, Kaugummi, der lässige Gang eines Superhelden. Die jugendlichen Fans hinter dem Absperrgitter des Trainingsplatzes kreischen: "Es ist Neymar!" Er lächelt, winkt, schreibt Autogramme. Fernsehteams eilen herbei, alles wie immer. Aber dann passiert etwas Erstaunliches: Die ersten Kinder entfernen sich wieder - ohne Autogramm. Manche wirken enttäuscht, andere verärgert. Aus der Nähe, aber wirklich nur von dort, ist nämlich zu erkennen: Es ist gar nicht Neymar. Sondern sein Doppelgänger.

Gabriel Lucas, 21, spielt seine Rolle nahezu perfekt. Er macht das ja auch schon seit fünf Jahren. Wenn der echte Neymar sich die Haare schneidet, geht er mit einem aktuellen Foto zum Friseur und sagt: Genau so! Derzeit tragen beide eine verbreiterte Irokesen-Dauerwelle. Sie sind auch an den gleichen Körperstellen tätowiert. Sogar das etwas quietschende Lachen hat der falsche Neymar vom Original kopiert. Gabriel Lucas ist ein Profi der Profi-Imitation. Man kann ihn für Kindergeburtstage buchen.

In diesen Wochen, vor der WM in Russland, ist er anderweitig ausgelastet. Mit einer Aufgabe von geradezu historischer Bedeutung. Ende Februar hatte sich Neymar den rechten Mittelfuß gebrochen, er musste operiert werden. WM-Einsatz ungewiss, hieß es damals. Seitdem fiebert die größte Fußballnation der Welt seiner Genesung entgegen. Das bislang letzte WM-Spiel ohne Neymar verloren die Brasilianer im eigenen Land 0:3 gegen die Niederlande. Das vorletzte 1:7 gegen Deutschland. Man muss sich also nicht wundern, dass jetzt alle Register gezogen werden, um das Zauberfüßchen der Nation rechtzeitig einsatzfähig zu machen. Zu diesen Registern gehört auch die Verpflichtung eines Doppelgängers.

Den Werbedreh für eine Fluggesellschaft absolviert Gabriel Lucas

Gabriel Lucas beschreibt sein Jobprofil so: "Ich übernehme seine Werbetermine, damit er mehr Zeit für Training und Reha hat." Einer wie Neymar, seines Zeichens teuerster Fußballer der Welt, hat vor so einer Weltmeisterschaft nahezu unbegrenzte Vermarktungsmöglichkeiten. Die will er auch nutzen. Mit einer brasilianischen Fluggesellschaft, die wohl nicht ganz zufällig Gol ("Tor") heißt, hat er einen Vertrag über 80 Drehstunden für mehrere TV-Spots unterschrieben. "80 Stunden sind zehn Tage Training", rechnet Gabriel Lucas vor. Er weiß, wovon er spricht, er hat die 80 Arbeitsstunden übernommen und in der Kampagne den Neymar gegeben. Die Fluglinie ist ehrlich genug, um das nicht zu verheimlichen, sie wirbt sogar offensiv damit. In den Spots heißt es: "Wir haben Neymar verpflichtet, aber wir haben ihn nicht eingespannt. Er hat gerade Wichtigeres zu tun." Patriotischer Verzicht als Verkaufsargument - so weit ist es gekommen mit der Neymar-Mania in Brasilien.

Wenn nicht alles täuscht, hat sich der Aufwand gelohnt. Vor knapp zwei Wochen traf sich die Seleção zu ihrem traditionellen Vorbereitungstrainingslager in den Bergen von Teresópolis, etwa 100 Kilometer nördlich von Rio, wo Brasilien wie ein schweizerisches Dorf aussieht und zum Mittagessen Fondue serviert wird. Manche Spieler trainierten dort mit Thermostrumpfhosen und Handschuhen, Neymar blieb zunächst im Kraftraum. Die Ärzte und Physiotherapeuten sagten, sie würden nichts überstürzen, er solle ganz behutsam ans Mannschaftstraining herangeführt werden.

Dann ging es aber doch erstaunlich schnell. Am zweiten Tag wurde er - kurzbehost - erstmals mit einem Ball auf dem Rasen gesichtet (großer Applaus). Am dritten Tag nahm er wie alle anderen am Abschlussspiel teil und wagte sogar einen Torschuss mit dem rechten Fuß (allgemeines Luftanhalten). Dann sprach Neymar, das Original, erstmals seit einem Dreivierteljahr wieder im Dienste der Nationalmannschaft zur heimischen Presse. Bestens gelaunt. Er räumte ein, dass er noch nicht ganz frei von Sorgen sei, dass seine Fußverletzung jetzt vor allem Kopfsache ist, aber er sagte auch jene beiden Sätze, die das ganze Land kollektiv aufatmen ließen: "Ich bin bereit zu spielen. Nichts kann mich mehr aufhalten."

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An diesem Sonntag soll Neymar wieder auf dem Platz stehen

Kurz darauf checkte er mit seinen Teamkollegen in ein Flugzeug ein, das beinahe vom Streik der brasilianischen Lkw-Fahrer aufgehalten worden wäre. Deren Straßenblockaden hatten einen Versorgungsnotstand ausgelöst, der neben Eiern, Gemüse und Medikamenten auch Kerosin betraf. Als die Maschine mit Neymar an Bord dann tatsächlich in Richtung London abhob, wo die Brasilianer den zweiten Teil ihrer WM-Vorbereitung bestreiten, lief die Meldung "Seleção nicht vom Kerosinmangel betroffen" unter Breaking News.

Diese Welt ist unberechenbar, das weiß auch Neymar. Aber wenn nicht noch ein unerwarteter Mittelfuß-Rückfall, ein britischer Lkw-Streik oder eine Judo-Attacke von Sergio Ramos dazwischenkommen, dann wird er an diesem Sonntag beim Testspiel der Brasilianer gegen Kroatien in Liverpool wieder auf dem Platz stehen, in der zweiten Halbzeit zumindest. Exakt drei Monate nach seiner komplizierten Operation. Und am selben Wochenende wie der deutsche Nationaltorwart Manuel Neuer, der wegen einer ähnlichen Verletzung acht Monate pausieren musste.

Brasiliens große Zeitung O Globo verkündete die frohe Botschaft unter der Schlagzeile "Zeit für einen Höhenflug". Neymar kennt die Erwartungshaltung in seiner Heimat. Wenn er spielen kann, soll er auch liefern. Er sagt: "Ich hoffe, dass mein Traum von einem WM-Titel diesmal nicht wieder vorzeitig unterbrochen wird." 2014 hatte er sich im Viertelfinale verletzt und das Halbfinale verpasst, die schlimmsten 90 Minuten der brasilianischen Fußballhistorie. Zur Bewältigung des 1:7-Komplexes gehört die allgemeine Überzeugung, dass dieses Ergebnis unter Mitwirkung Neymars unmöglich gewesen wäre. Seine Präsenz, heißt es, verschaffe dem Team nicht nur fußballerische Exzellenz, sondern auch psychische Stabilität. Umgekehrt lässt das nichts Gutes erwarten für den Fall, dass er auch in Russland einmal spontan ausfallen sollte, aus welchen Gründen auch immer.

Nationaltrainer Tite, der Brasiliens Auswahl erstaunlich schnell von einer Lachnummer zurück in die Weltspitze geführt hat, arbeitet sehr akribisch daran, die Abhängigkeit seiner Mannschaft von ihrem besten Spieler zu verringern. Hier und da hat sie bereits angedeutet, dass sie auch ohne ihn große Gegner schlagen kann - etwa beim Testspielsieg Ende März gegen Deutschland. Gleichwohl sind die meisten Beobachter, Kenner und TV-Gurus der Seleção immer noch der Ansicht, dass die Hexa, der sechste WM-Titel also, nur unter dem Kommando Neymars zu schaffen sei.

Eine der bezauberndsten Figuren des brasilianischen Guru-Wesens ist der 72-jährige Dario José dos Santos. Im Trainingslager der Seleção erkennt man ihn an seiner Original-Trainingsjacke von der WM 1970 in Mexiko. Es ist ein Kleidungsstück, das unschätzbaren Sammlerwert haben muss. Weltmeister wie Pelé, Carlos Alberto, Tostão, Gérson, Rivelino und Jairzinho haben es getragen, eine der legendärsten Mannschaften der Geschichte dieses Sports. Dario hat diese Jacke nicht etwa vom Flohmarkt, sondern vom damaligen Zeugwart. Dos Santos gehörte 1970 auch zum WM-Kader, die Brasilianer verehren ihn unter seinem Spitznamen Dadá Maravilha ("Dadá, das Wunder").

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Seine Karriere ist tatsächlich wundersam. Er begann als Bandit in den Straßen von Rio, flog von der Schule, fing an zu dichten, ging zur Armee, mit 19 spielte er erstmals in einem Fußballteam. Sechs Jahre später fuhr er zu WM. "Mit dem Ball am Fuß war ich eine Katastrophe", deshalb spezialisierte er sich auf Kopfbälle. Er sagt: "Nenn mir drei Dinge, die in der Luft stehen bleiben: Kolibri, Hubschrauber, Dadá Maravilha." In der ewigen Torschützenliste seines Landes, Liga- und Länderspiele addiert, liegt er auf Platz fünf. Einmal erzielte er für Sport Recife zehn Treffer in 90 Minuten. Das ist brasilianischer Rekord. Bei der WM in Mexiko wurde er trotzdem keine Sekunde eingesetzt. Auf seiner Position spielte Pelé. "Da konnte man nur den Hut ziehen und sich brav auf die Bank setzen", sagt Dadá.

Es fehle diesem Team an natürlicher Autorität, behaupten Kritiker

Was Pelé damals war, sei Neymar heute, ein Jahrhunderttalent, das auf höchstem Niveau den kleinen Unterschied ausmacht. Aber wenn Dadá das Team von 1970 mit dem von 2018 vergleicht, dann sieht er eben auch einen großen Unterschied: "Bei uns war Carlos Alberto der Chef, Gérson der Dirigent und Pelé das Genie. Neymar soll alles auf einmal sein."

Es gibt in Tites Kader noch eine Reihe weiterer hochbegabter Offensivspieler, etwa Philippe Coutinho, Willian, Gabriel Jesus und Roberto Firmino. "Aber keiner von ihnen hat bewiesen, dass er eine Mannschaft anführen und mitreißen kann", meint Dadá. Es fehle diesem Team nicht an Talent, aber an einer natürlichen Autorität. "Neymar ist jetzt auch schon 26 und wirkt oft noch wie ein verspieltes Kind. Er trennt sich zu spät vom Ball."

Sein Guru-Gefühl sagt ihm, dass hier die größte Gefahr für den brasilianischen WM-Traum lauert. "Alle Abwehrspieler wissen, an welchem Fuß Neymar verwundbar ist. Sie werden einen Pakt mit dem Teufel schließen und versuchen, ihn aus dem Spiel zu nehmen." Als TV-Experte ist Dadá Maravilha für seine blumige Sprache berüchtigt. Einer seiner bekanntesten Sätze lautet: "Não venha com a problemática que eu dou a solucionática." (Sehr frei übersetzt: Komm mir nicht mit Problemchen, ich habe schon das Lösüngelchen.") Das brasilianische Neymar-Problemchen ließe sich aus seiner Sicht so beheben: "Einfach noch zusätzlich den Doppelgänger aufstellen, dann wissen die Gegner nicht mehr, wen sie umtreten sollen."

© SZ vom 02.06.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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