WM 2010: Mesut Özil:Der Seriensprint-Zehner

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Niemals stoppen, immer im Fluss: Mesut Özil erteilt dem immer noch Netzer-verliebten Deutschland eine Lektion in modernem Fußball - er ist der erste Spielmacher der Neuzeit.

Christof Kneer

In der 8. Minute hat Mesut Özil keinen langen Pass geschlagen. Er bekommt den Ball kurz vor der rechten Außenlinie, er nimmt ihn an, läuft mit ihm ein paar Meter nach innen, ganz harmlos sieht das aus. Ein Australier kommt des Wegs, Özil schlägt einen Haken nach links, dreht dann eine Pirouette nach rechts, schon ist er den Australier los. Nun nimmt er Fahrt auf, es sieht nicht mehr so harmlos aus jetzt, und dann schiebt er den Ball in eine hohle Gasse, in der plötzlich Thomas Müller auftaucht. Kurz darauf steht es 1:0 durch Lukas Podolski.

Moderner Stratege: Mesut Özil beim Spiel gegen Australien. (Foto: afp)

In der 70. Minute hat Mesut Özil auch keinen langen Pass geschlagen. Er materialisiert sich plötzlich an der linken Strafraumgrenze, er läuft genau in jenen Pass hinein, den Holger Badstuber die Linie entlang geschickt hat. In der Zeitlupe kann man erkennen, wie Özil im Sprint kurz den Kopf hebt, nach innen schaut und wie er dann, ohne den Ball unnötig zu belästigen, ihn mit einer einzigen fließenden Bewegung nach innen spielt. Kurz darauf steht es 4:0 durch Cacau.

"Wir haben immer einen Zehner gebraucht und gesucht", wird Stürmer Miroslav Klose am nächsten Tag sagen, er sei froh, "dass Mesut sich für Deutschland entschieden hat".

Ein Zehner. Özil trägt die Rückennummer acht in der deutschen Nationalelf, bei Werder Bremen trägt er die Elf. Ist Mesut Özil ein Zehner?

Auf dieser Position ist der deutsche Fußball ein bisschen empfindlich. In den siebziger Jahren hat der deutsche Fußball seinen Zehner verherrlichen gelernt, und er möchte so recht nicht von ihm lassen. Die Siebziger waren eine gute Zeit für Zehner, das Spiel war weiträumig, das Tempo gemäßigt, es waren die Jahre, in denen sich die Jünger hälftig hinter Günter Netzer und Wolfgang Overath versammelten. Es folgten Felix Magath und Hansi Müller, Bernd Schuster und Uwe Bein. Der Zehner hatte Charisma, er riss das Spiel an sich, spielte weite Pässe und schoss manchmal ein Tor. Der Zehner war ein Stratege.

WM 2010, Einzelkritik: Deutschland
:Stilles Schaffen, scharfe Pässe

Ein Özil-Pass von Lukas Podolski, ein Gerd-Müller-Tor von Müller und ein Miroslav-Klose-Tor von Miroslav Klose - die Spieler des DFB in der Einzelkritik.

Christof Kneer und Philipp Selldorf

Ist Mesut Özil, der kaum einen langen Pass spielt, ein Stratege?

Die einzige Schwäche von Mesut Özil derzeit: Er vergibt zu viele Torchancen. (Foto: ap)

Es ist in den letzten Tagen oft erklärt worden, dass Özil, 21, das Spiel der deutschen Nationalmannschaft verändert hat. Das stimmt und ist doch nicht die ganze Wahrheit. Die ganze Wahrheit ist, dass Özil dem Land gerade eine Lektion in modernem Fußball erteilt. Unter Schmerzen hat Deutschland ja irgendwann auch lernen müssen, dass es im zeitgenössischen Sport keinen Vorstopper mehr gibt, keinen Libero und keinen Linientorwart, und zum Ausgleich kann man Deutschland jetzt die erfreuliche Mitteilung machen, dass der geliebte Zehner keineswegs tot ist. Der Zehner lebt weiter, er spielt jetzt nur anders. Er spielt jetzt wie Mesut Özil.

In der Choreographie der Laufwege des modernen Fußballs hat der Spielmacher, der Regisseur, der Denker und Lenker, der Impuls- und Ideengeber, der Fädenzieher und Taktstockschwinger eine neue Heimat gefunden, in der er zum Glück nicht mehr so heißt. Es ist kein gewaltsamer Akt mehr, wenn der Zehner das Spiel an sich reißt. Im Idealfall hat der Zehner auch nichts Chefhaftes mehr, er ist nicht mehr der Vorgesetzte des linken und des rechten Mittelfeldspielers, der Zehner kommt ja selbst viel rum. Zum 1:0 gegen Australien ist Özil von rechts draußen aufgebrochen, das 4:0 hat er von links in Auftrag gegeben, in der Zentrale wachten derweil Podolski oder Müller, Schweinsteiger oder Khedira.

Wie Messi und Robinho

"Mesut entspricht auf ideale Weise den Vorstellungen vom Fußball, den wir spielen wollen", sagt Joachim Löw, "seine tödlichen Bälle kommen mit solcher Leichtigkeit, bei ihm stoppt das Spiel nicht, sondern ist immer im Fluss." Özil ist Deutschlands erster Spielmacher der Neuzeit - einer Zeit, in der sich der Fußball rasant entwickelt. "Ganz anders als noch 2002" werde inzwischen gespielt, sagt Miroslav Klose, der damals als Pfälzer Jungspund seine erste WM erlebte. "Der Hauptunterschied ist, dass Fußball viel weniger Ausdauersportart ist als damals", sagt Löw, "Fußball ist heute eine Seriensprint-Sportart." Es ist eines von Löws ganz großen Themen: dass es heutzutage nicht mehr reicht, ein Spiel durchzutraben und zwischendrin mal ein paar Sprints einzustreuen. "Heute findet alles in höchstem Tempo statt", sagt Löw. Natürlich sagt er: in höggschdem.

Mesut Özil ist ein Seriensprint- Zehner, das ist das modernste Offensivwesen, das zurzeit auf dem Markt ist. Er hat eine Ballführung, die an Wolfgang Overath erinnert, aber er stößt in Räume vor, die früher nur Gerd Müller kannte. Bei der WM sieht man auch den Brasilianer Robinho in dieser Rolle und überraschend auch Lionel Messi. Beim FC Barcelona schwärmt er vom Flügel aus, bei Argentinien beginnt er seine Sprintstreifzüge in der Mitte. Der Seriensprint-Zehner ist immer in Bewegung, er kann Pässe versenden und empfangen, und er fühlt sich am wohlsten, wenn er nur einen Stürmer vor sich hat. Er hat dann herrlich viel Raum, in den hinein er seriensprinten kann. Und in diesen Räumen findet er herrlich viele Verteidiger, die er herrlich verrückt machen kann.

Gegen Serbiens wehrhafte Abwehrkräfte wie Vidic oder Ivanovic wird sich zeigen, wie weit Mesut Özil schon ist. Ob er schon gut genug ist, dem Land, für das er spielt, die Sehnsucht nach den Siebzigern abzugewöhnen.

© SZ vom 18.06.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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