Fußball und Gesellschaft:Effektive Fanarbeit statt Schuldzuweisungen

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Beim Dortmunder Champions-League-Duell gegen Istanbul kommt es zu Fanausschreitungen. Inzwischen ermittelt sogar die Mordkommission. (Foto: dpa)

Krawalle, Drohnen, Hooligans: Der Fußball schlägt immer breitere politische Schneisen in die Gesellschaft. Weil er Klischees pflegt, anstatt Einblick in die Welt der Fans zu suchen.

Kommentar von Thomas Kistner

Es geht nicht mehr ohne Chöre. Ist Bundesliga oder Champions League, ist da dieses stete Blitzen und Brausen: Hymnen. Chöre. Licht. Präludien für die anbetungswürdigen Wesen auf dem Rasen. Sind Kicker nur Menschen mit Talent im Fuß - oder Überwesen, Boten einer neuen Religion? Ein dickes Knie sprengt die Spätnachrichten.

Alle Härchen müssen stehen in Zeiten der Pep-Kultur: Gänsehaut pur, Fußball boomt noch, wenn die Weltwirtschaft stagniert. Und servile Politiker gestatten kriminellen Funktionären weiter brav Zoll- und Steuerprivilegien. Dumm nur, dass so eine gesellschaftspolitische Kraft auch dort Wirkung entfaltet, wo nicht in harter Währung gerechnet wird: bei den Fans.

Die Fußball-Industrie genießt viele Privilegien. Das ist falsch

Fantastische Klientel, die kauft alles ab. Nur spürt sie auch, dass ihre Rolle größer sein könnte als die des sedierten Zahlknechts - wie sie die Branche sieht. Diese Branche hat die Medienhoheit und konnte daher lange die gesellschaftlichen Kollateralschäden ihrer kultischen Arbeit runterspielen: alles, was über Ecken und Elfer hinausreicht. Geht es um Probleme mit den Fans, nimmt der Sport bis heute den Stadionrand als Gesprächslinie: Wir stellen Ordner, machen Fanprojekte etc., draußen muss die Gemeinschaft ran.

Polizei, Verfassungsschutz, irgendwer halt. So ist ein Schwarzes Loch entstanden, aus dem immer bedrohlichere Signale dringen. Eine aktuelle Auswahl: In Dortmund ermittelt nach dem Gastspiel von Galatasarsay Istanbul die Mordkommission. In Köln gingen jüngst 5000 Hooligans gegen Salafisten auf die Straße; HoGeSa heißt der Aufmarsch, der nächste Woche in Hannover fortgesetzt werden soll. Das sind keineswegs nur Rechtsradikale, gerade die Hoolszene rekrutiert sich stark aus der Mittelschicht. Daneben balancieren die Ultras zwischen Norm und Zwang.

Anderswo ist es noch drastischer. Die EM-Qualifikation Serbien - Albanien wurde abgebrochen, als eine Drohne mit politischem Banner auf dem Feld landete. Und in Nah- und Mittelost bilden radikale Fangruppen den Gesellschaftsteil, der die Aufstände vom Kairoer Tahir- bis zum Taksim-Platz am Bosporus prägte.

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Ermittlungen gegen 700 türkische Fans: Nach den Ausschreitungen beim Spiel zwischen Dortmund und Galatasaray Istanbul zieht die Polizei eine erschreckende Bilanz. Auch der BVB wird kritisiert.

Auch das mit dem Fußball als globalem Integrationsmodell erledigt sich gerade. Italiens Verbandschef nennt farbige Spieler Bananenfresser; britische Profis melden rassistische Angriffe so verlässlich wie Kollegen in Osteuropa. Das alarmiert nun den Fachbeauftragten des Weltverbands Fifa: Farbige Spieler könnten "sich weigern, 2018 zur WM nach Russland zu reisen", warnt er mit Blick auf die Zustände in der russischen Liga. Wo drei Klubs von der annektierten Krim spielen. Die Funktionäre dulden es.

So schlägt der Fußball immer breitere politische Schneisen in die Gesellschaft. Weil er Klischees pflegt, statt Einblick in die Welt seiner Klientel zu suchen. Er hat aber viel Verantwortung, er gehört rausgeholt aus Sonderstatus und Privilegien: Eine Heldenindustrie, die ihren Griff um die ganze Welt legen will. Bayern gegen Dortmund war in 208 Ländern zu sehen.

Dabei ist klar, dass es der Fußball nicht allein regeln kann. Er muss aber seine tragende Rolle annehmen, sich bekennen, damit der Schwebezustand der Schuldzuweisungen beendet werden kann. Er muss Geld beisteuern und für effektive Fanarbeit sorgen. Wie sollen Strömungen erkannt, Dialoge geführt, Gewalttäter ausgegrenzt werden, wenn Klubs, Ligen, Verbände ihre Kundschaft gar nicht kennen?

Übrigens ist der große Rest, der ruhige Teil des Publikums derjenige, der sich als erstes abwendet. Sobald er erkennt, dass das Spiel zur schönsten Nebensache im Fußball geworden ist.

© SZ vom 08.11.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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