Frankreich vor dem Deutschland-Spiel:Bruchlinien der Bleus

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Ganz hinten die magischen Drei: Antoine Griezmann, Kylian Mbappé, Karim Benzema (von links) und all die anderen Mitglieder des aktuellen Weltmeisters sind bereit für den Turnierstart gegen die deutsche Nationalmannschaft. (Foto: Anthony Bibard/PanoramiC/Imago)

Ein Torwart, so unumstritten wie Neuer. Ein Mittelfeld der Giganten. Und ein Angriff, der Schrecken verbreitet: Hat die französische Nationalmannschaft eigentlich gar keine Schwächen? Doch, ein paar.

Von Claudio Catuogno, München

Am Montagmittag bestiegen die französischen Nationalspieler ihr Flugzeug nach München, und man konnte es erstaunlich finden: Die Formation beim schnellen Gruppenbild vor dem Abflug nahm teilweise die Aufstellung für das EM-Spiel gegen Deutschland am Dienstagabend vorweg. Ganz vorne in der Mitte hockte auf dem Flugzeugboden: der Stürmer Kylian Mbappé, eingerahmt von den Offensivkollegen Antoine Griezmann und Karim Benzema. Letzterer allerdings saß nicht auf dem Flur, sondern im bequemen Business-Class-Sessel, Reihe 1, Platz B. Olivier Giroud wiederum hatte in der zweiten Reihe Platz genommen. Was natürlich als Indiz gewertet werden muss, dass er sich wieder in die offizielle Stürmerhierarchie einreiht nach dem Streit, den er kürzlich mit dem perfiden Halbsatz ausgelöst hat, im Zusammenspiel mit den Kollegen kämen bei ihm zu oft "die Bälle nicht an".

Weiterhin fiel auf, dass sich die Außenverteidiger Benjamin Pavard und Lucas Hernández, beide mit der Destination München aus beruflichen Gründen vertraut, brav auf ihre jeweilige Seite orientiert hatten, Pavard nach rechts, Hernández nach links. So wird es auch in der Münchner Arena sein. Und wer noch ein bisschen weiter in diesem Foto lesen wollte, der entdeckte die zwei stillen Führungsspieler der Bleus, Torwart Hugo Lloris und Mittelfeldmann N'Golo Kanté, wie sie ihre Köpfe eher schüchtern vom Rand in Richtung Kamera strecken. Fast, als wäre es ihr Plan, unterschätzt zu werden ...

Dass der Bundestrainer Joachim Löw die Aufnahme am Montag bei Twitter entdeckt hat, muss man nicht annehmen. Überhaupt ist Löw nicht auf Fotos, Tarotkarten oder Spione angewiesen, um zu erahnen, wie der aktuelle Weltmeister beim Spiel in München auflaufen wird. Die Franzosen von Trainer Didier Deschamps tun Löw netterweise jenen Gefallen, den Löw vor drei Jahren bei der WM in Russland seinem mexikanischen Kollegen Juan Carlos Osorio zukommen ließ: Osorio berichtete damals, er habe sich über Monate darauf vorbereiten können, mit welchem Personal und mit welcher Taktik Löws Deutsche ihr erstes WM-Spiel bestreiten würden. So ist es nun auch bei Deschamps: Von ihm sind keine Überraschungen zu erwarten; auf mindestens zehn Positionen steht seine Startelf.

Was aber nicht heißt, dass es jetzt bloß einen klugen deutschen Matchplan braucht, um gegen Frankreich einen Sieg zu landen, wie es den cleveren Mexikanern seinerzeit beim 1:0 gegen die Deutschen in Moskau gelang. Dafür haben Les Bleus einfach nicht genug Schwächen. Ein paar allerdings schon. Ein Streifzug durch eine Elf, die nach dem WM- auch den EM-Pokal erobern will.

Der Torwart

Hugo Lloris, 34, ist ein halbes Jahr jünger als sein Gegenüber Manuel Neuer - hat aber mehr Länderspiele bestritten als der Deutsche: 125. Neuer hat jüngst die Hunderter-Marke geknackt. Wie Neuer bestreitet Lloris sein sechstes großes Turnier, wie Neuer steht er seiner Elf auch als Kapitän vor, schon seit 2012 (Neuer: seit 2016). Und mehr noch als Neuer ist auch die Nummer eins von Tottenham Hotspur kein Wortführer im klassischen Sinne: Lloris habe die Stimme ungefähr so oft erhoben wie den WM-Pokal, sagen sie über ihn in Frankreich. Entscheidend ist aber: Wenn Lloris etwas spricht, ist es meistens das Richtige, auch das macht ihn zur unumstrittenen Autorität. Seinen Strafraum durchschreitet er weniger forsch als Neuer, dafür ist er auf der Linie eine Klasse für sich: Lloris' Reflex gegen einen Kopfball des Uruguayers Martin Cáceres im Viertelfinale von Nischni Nowgorod war 2018 die Parade der WM.

Die Abwehr

Vor Lloris ist eine Weltmeisterabwehr postiert, jedenfalls zu 75 Prozent. Drei der vier Spieler in Deschamps' Viererkette bestritten das WM-Finale vor drei Jahren. Nur Innenverteidiger Samuel Umtiti ist nicht mehr dabei: Beim FC Barcelona kommt Umtiti nach Verletzungen kaum noch zum Einsatz. Und auch für den Rechtsverteidiger Benjamin Pavard lief nach dem WM-Titel nicht alles rund: zum Beispiel die Beziehung mit der acht Jahre älteren Miss France 2007, Rachel Legrain-Trapani. Sie hielt nur noch ein gutes halbes Jahr. Die Beziehung zum FC Bayern hingegen verläuft bis heute harmonisch: War Pavard 2018 noch der Überraschungs-Debütant vom VfB Stuttgart, ist er jetzt ein Champions-League-Sieger, defensiv sehr solide bei beachtlichem Vorwärtsdrang. Und: Er kennt die Stärken von Thomas Müller, Serge Gnabry oder Leroy Sané.

Die kennt auch Lucas Hernández, der Linksverteidiger, allerdings mehr aus der Halbdistanz: Hernandéz pendelte bei den Bayern immer wieder zwischen Innen- und Außenposition, Bank und Arztzimmer. Deschamps vertraut ihm offenbar tiefgreifender als Hansi Flick; und womöglich hat Hernández im blauen Trikot ja ein bisschen was von der Euphorie konserviert, die ihn 2018 antrieb. Legendär, wie er am Morgen nach dem Finale im Hotelgarten eine Thuja umarmte.

Womit man bei den Innenverteidigern wäre, die ein paar Umarmungen auch gut gebrauchen können: Raphaël Varane, der zwar auch erst 28 ist, aber gefühlt schon seit der Altsteinzeit Frankreichs gesetzter Innenverteidiger, hat bei Real Madrid nicht die beste Saison hinter sich. Und dann ist da noch der Umtiti-Vertreter Presnel Kimpembe von Paris Saint-Germain: Mit seinen gelegentlichen Konzentrationsschwächen sei es schon besser geworden, hieß es zuletzt. Doch aus der jüngsten Champions-League-Mission mit PSG ist vor allem ein übler Tritt gegen Gabriel Jesus vom späteren Finalisten Manchester City erinnerlich.

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Wenn sie also ein paar Schwächen haben, die Franzosen, dann wohl hier. Problem: Man muss als deutscher Nationalspieler erst mal bis zur französischen Abwehr vordringen.

Mittelfeld

Der Mann vor der Abwehr, an dem man vorbeikommen muss, ist N'Golo Kanté vom FC Chelsea. Kanté, der beste Spieler des Champions-League-Finales und eigentlich aller anderen Partien, in denen er mitwirkt. Kanté, der Gigant, der nur 1,68 Meter misst. Kanté, der Unantastbare. Kanté zu kritisieren, schrieb kürzlich die Zeitung Le Monde, erscheine "so unpassend, wie sich gegen den Weltfrieden auszusprechen oder das Aussterben der Delfine zu unterstützen". Seine Ballsicherheit, sein Stellungsspiel, seine Antizipationsfähigkeit im Zweikampf, dazu die Ausdauer eines Gabelbocks, die Opferbereitschaft einer australischen Krabbenspinne - und diese Bescheidenheit! Während Joachim Löw viele brillante Mittelfeldspieler im Team hat, die sich alle nur teilweise für die Dienstleiterrolle eignen, braucht Deschamps nur diesen einen: Kanté.

Weniger unantastbar ist traditionell Paul Pogba - Kantés Nebenmann und Antipode. Als Pogba 2016 zum zweiten Mal in seiner Karriere zu Manchester United wechselte, war er mit 105 Millionen Euro Ablöse zwischenzeitlich der teuerste Spieler der Welt, was trefflich zu seinem losen Mundwerk passte. Es dauerte dann eine Weile, bis sich seine Leistungen auf dem Niveau seiner Sprüche einpendelten; inzwischen ist es aber vor allem der unbändige Drang zum Tor, der ihn als Mittelfeldspieler auszeichnet.

Und der Dritte in diesem Bunde dürfte Adrien Rabiot, 26, sein, der sein erstes Turnier spielen wird. 2016 stand er nur auf der Nachrückerliste, und als er dort 2018 wieder platziert wurde, zog er sich in die Schmollecke zurück, während sich seine Agentin und wichtigste Ratgeberin, seine Mutter, einen absurden Zank mit dem Verband lieferte. Inzwischen hat er sich bei Juventus Turin etabliert - und mit Deschamps ausgesprochen. Allerdings, das ist die offene Planstelle in der Startelf, könnte statt Rabiot auch ein anderer in München zum Einsatz kommen: Corentin Tolisso. Auch Tolisso kennt die Bayern-Spieler im DFB-Team und die Arena. Er wäre die etwas defensivere Variante im Vergleich zu Rabiot, was Deschamps sich allerdings locker leisten könnte, wenn er mal schnell einen Blick auf sein restliches Offensivpotenzial wirft.

Der Angriff

Denn wenn ein Mannschaftsteil der Bleus weltweit Angst und Schrecken verbreitet, dann ist es der französische Dreiersturm: Kylian Mbappé, Antoine Griezmann, Karim Benzema. Oder in anderen Worten: der schnellste Stürmer der Welt mit Ball, der schnellste Stürmer der Welt ohne Ball und der schnellste mutmaßliche Sexvideoerpresser, der es zurück in sein Nationalteam geschafft hat.

Benzema, das hatte zuletzt viele andere Themen in den Schatten gestellt, war im Mai überraschend in Frankreichs Équipe zurückgekehrt, nach fast sechs Jahren Verbannung. Die Geschichte, wie ein paar alte Kumpels von ihm seinen damaligen Teamkollegen Mathieu Valbuena mit schlüpfrigen Videoaufnahmen erpressten, und wie Benzema dem Kollegen den Tipp gab, er solle besser bezahlen - diese Geschichte würde man im Sinne von Benzemas Resozialisierung gerne verschweigen. Bloß: Das Gerichtsverfahren steht noch aus, das Thema wird Benzema wieder einholen.

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Bis dahin soll er für Deschamps aber wieder der Stürmer sein, der den Unterschied macht, zumal er eine überzeugende Saison bei Real Madrid hinter sich hat. Und das, obwohl da doch noch zwei weitere Angreifer sind, die bei den Franzden Unterschied ausmachen: Mbappé, Jungstar von Paris Saint-Germain, und Griezmann, der sich nach Startschwierigkeiten beim FC Barcelona durchgesetzt hat. Vor allem Griezmann muss man den Deutschen nicht mehr vorstellen, bei der letzten EM, 2016 in Frankreich, hat er im Halbfinale beide Treffer gegen sie erzielt.

Ob der Friede hält zwischen den zwei Etablierten, dem umstrittenen Rückkehrer - und dem Joker Giroud, der mit seiner jüngsten Kritik, die sich insbesondere gegen Mbappé richtete, die Schlagzeilen bestimmt hat? Bruchlinien gibt es. Aber sollten sie aufbrechen im Laufe der EM, dann sicher erst nach dem ersten Spiel der Franzosen, am Dienstagabend gegen die Deutschen.

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