Fußball:Die Zeit der Katzen ist vorbei

Lesezeit: 3 min

Beim Torwart-Kongress in München wird die künftige Rolle des letzten Mannes im modernen Fußball definiert - die Anforderungen haben sich gravierend geändert.

C. Zaschke

Es dauerte nicht lange, bis Jens Lehmann merkte, was da im Torwarttraining bei Arsenal passierte. Es war das Jahr 2003, Lehmann war gerade nach London gewechselt, und nun sagte ihm sein irischer Torwarttrainer immer wieder, er solle langsam machen und vor allen Dingen nicht so hoch springen - da könne man sich ja verletzen. "Die Torhüter wurden im Training geschont", erzählte Lehmann am Freitag in München einem Publikum, das sich für solche Geschichten wirklich interessiert - denn Lehmann sprach auf dem zweiten Internationalen Torhüter-Kongress.

Jens Lehmann war einer der Teilnehmer des zweiten internationalen Torwart-Kongresses, bei dem die Rolle des Schlussmanns im Fußball diskutiert wurde. (Foto: Foto: dpa)

Die Torhüter haben es ja nicht immer leicht, sie gelten als eigenwillig, sie werden ihrer Marotten wegen belächelt, und wenn sie mal einen Kongress veranstalten, ergeben sich gleich belustigte Fragen danach, ob es denn demnächst auch einen Rechter-Verteidiger-Kongress gebe. Bundestorwart-Trainer Andreas Köpke aber weiß, warum er Schirmherr der zweitägigen Veranstaltung war: "Die Position des Torhüters ist diejenige im Fußball, die sich am meisten verändert hat in den vergangenen Jahren", sagte er. In Theorie und Praxis haben Delegierte aus aller Welt diesen Veränderungen am Freitag und an diesem Samstag nachgespürt.

Torhüter müssen kicken können

Besonders die Vertreter aus kleineren Ländern waren dabei von den Zahlen beeindruckt, in denen sich das Torwartspiel auf höchstem Niveau beschreiben lässt. Köpke referierte, dass ein Torhüter mittlerweile sieben bis acht Kilometer pro Spiel laufe. "Zu meiner Zeit waren es drei oder vier", sagte Köpke, der 1996 als Nationaltorwart Europameister geworden ist. Der ehemalige Schweizer Nationaltorwart Jörg Stiel hatte eine weitere faszinierende Zahl parat: "Nur noch 15 Prozent des Torwartspiels passieren mit der Hand", sagte er, "der Rest ist Fußarbeit." Was bedeutet: Der moderne Torwart muss ein Fußballer sein.

Das war lange Zeit nicht nötig. Stiel hat sich seit 2007 intensiv mit der neuen Rolle des Torwarts beschäftigt. "Vor 20 Jahren gab es noch den reinen Linientorwart, der ausschließlich reagierte", erzählte er, "vor zehn Jahren kam das Wort Strafraumbeherrschung auf, seit fünf Jahren ist es so, dass ein guter Schlussmann einen Raum von 30 Metern vor seinem Tor beherrschen muss." Die Ära des Linientorwarts nennt Stiel die "Zeit der Katzen" - so wurden Torhüter genannt, die über besonders gute Reflexe verfügten.

Mittlerweile reichen Reflexe nicht mehr. Köpke beschrieb einen modernen Torwart: "Er muss Fußball spielen können, rechts wie links, er muss das Spiel lesen können, Angriffe einleiten, durch Abwürfe oder gezielte Abschläge, er muss den Strafraum beherrschen, er muss bis ins Mittelfeld dirigieren - und er muss eine starke Persönlichkeit haben."

Jens Lehmann erweiterte die umfangreiche Liste noch: "Ein Torwart muss sich konzentrieren können." Das hält er sogar für das Wichtigste, "alles andere kann man lernen". Lehmann fand eine interessante Erklärung für das Torwartproblem der Engländer: "Die Kinder, die gut Fußball spielen, werden in England oft früh aus der Schule genommen. Genau dort aber lernt man, sich mehrere Stunden zu konzentrieren." Diese Praxis, dazu das Schon-Training, von dem er berichtete, und einen dritten Punkt hält er für die Ursache des Mangels an guten Torhütern von der Insel: "Englischen Torhütern wird erklärt, dass sie auf der Linie bleiben sollen, weil sie im Strafraum so hart angegangen werden." Lehmann entwickelte in England einige Eigenheiten, die er der Härte im Strafraum entgegensetzte, was ihm dem Spitznamen "Mad Jens" einbrachte - verrückter Jens.

Offenes Rennen im Nationalteam

In Deutschland verkörpert derzeit nach Ansicht Köpkes am ehesten der Schalker Manuel Neuer den modernen Torwart. Neuer sowie Robert Enke, Rene Adler und Tim Wiese seien die vier Torhüter, mit denen die Bundestrainer bis zur WM 2010 planen - "irgendwann werden wir uns auf drei einigen und auch eine Reihenfolge festlegen. Das Rennen ist aber im Moment noch offen", sagte er.

Wie wichtig ein moderner Torhüter heute im Fußball ist, erläuterte Jörg Stiel. "Mit einem Torwart, der den Raum beherrscht, kann ich ein anderes System spielen", sagte er, "eines, in dem die gesamte Mannschaft viel weiter aufrückt. Das führt dazu, dass die Laufwege kürzer werden und der Großteil des Spiels in des Gegners Hälfte stattfindet" - zumindest im Idealfall. Stiel schlägt vor, dass der Torwart eine Trainingseinheit pro Woche als Feldspieler absolvieren soll.

Die Erforschung der komplexen Rolle des letzten Mannes steht jedoch noch am Anfang. Delegierte aller Kontinente berichteten unisono vom größten Problem der Torhüter: Sie werden als Fußballer noch immer nicht richtig ernst genommen.

© SZ vom 27.06.2009/jbe - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

WM-Torwart
:Von Stuhlfauth bis Neuer

Manuel Neuer ist die neue Nummer eins - und wird damit Nachfolger etlicher Torwart-Größen. Eine Reise durch das deutsche Tor.

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: