Um 23.21 Uhr war es passiert. Nein, nein, der Eiffelturm war nicht eingestürzt. Aber so ähnlich. Rafael Nadal hatte verloren. In Paris. In Roland Garros. Seinem Roland Garros. Auf seiner Terre Battue. Und, auch das muss man betonen: auf sportlichem Weg. Nadal gab nicht auf, niemand war verletzt, alles fand unter optimalen Bedingungen statt. 3:6, 6:3, 7:6 (4), 6:2 - so lauteten die Zahlen. Aber so nüchtern dargestellt lassen sie auf immer und ewig niemals erahnen, was da stattgefunden hatte. Andy Murray, der große Schotte, der dreimalige Grand-Slam-Sieger und, viel wichtiger, eine einordnende Instanz wichtiger Themen, twitterte während der Partie: "Du kannst nicht besser Sandplatztennis spielen als das. Es ist perfekt." Der Sieger sah es, welch Überraschung, genau so.
"Um Rafa auf Sand hier zu schlagen, musst du dein bestes Tennis spielen", erklärte Novak Djokovic, "und ich habe heute mein bestes Tennis gespielt." Nadal, 20 Grand-Slam-Titel schwer, hatte da schon den Platz verlassen, auf dem sich die beiden so lange gegenseitig gescheucht hatten. 4:10 Stunden waren es am Ende. Es drohte zwischenzeitlich ein Chaos, weil ja eigentlich ab 23 Uhr die Ausgangssperre anberaumt war. Aber dann wurde tatsächlich diese Regel außer Kraft gesetzt. Die 5000 Zuschauer, ekstatisch aufgeladen, konnten bleiben - und sangen die Marseillaise. Jemand twitterte: "Novak Djokovic und Rafael Nadal beendeten gerade Covid-19." Der 35-jährige Spanier, der 34-jährige Serbe, sie trieben alle Zuseher in den Wahnsinn.
Die Ouvertüre gab gleich mal den Takt vor, das Drehbuch. Erstes Aufschlagspiel Nadal, zwei Breakbälle Djokovic, dreimal Einstand, eine gefühlte Ewigkeit das alles. Dass es später dann 5:0 für Nadal stand, war angesichts der Intensität der Ballwechsel aberwitzig, ja fast zynisch. Letztlich gewann Nadal den Satz 6:3, hatte aber nur neun Punkte mehr gewonnen. In kaum einer Sportart lügen Zahlen manchmal so wie beim Tennis. Denn wenn man tausend Punkte macht, aber nie diesen einen entscheidenden, den zum Spielgewinn, den zum Satzgewinn, den zum Matchgewinn, nützt alles Bemühen nichts.
In 108 Partien in Paris hat Nadal nun dreimal verloren
Es war dann Djokovic, der den Spielverderber gab und Nadal immer öfter auflaufen ließ, den 13-maligen Sieger von Paris, den Rekordhalter. Djokovic grätschte und drehte sich und turnte umher, als sei er die Wiedergeburt Michail Baryschnikows. Die Winkel, mit denen beide ihre Bälle platzierten, stammten aus der fünften Dimension, das heißt, irdische Gesetze zumindest griffen nicht, um das spielerische Niveau zu erklären. Die Linien übrigens mussten im Grunde nicht gereinigt werden nach jedem Satz. Sie waren blankpoliert, weil beide so oft so exakt darauf die Bälle gespielt hatten.
Die Partie drehte nicht wirklich, sondern sie baute sich auf allerhöchstem Level auf wie eine Flut. Nadal wirkte manchmal nicht ganz so fehlerlos, wie er sonst hier schon agiert hatte. Manchmal platzierte er wahrhaftig den Ball einen Zentimeter neben die Grundlinie. Auf diesem Niveau bewegten sich die Patzer. Ansonsten droschen sie sich gegenseitig die Winner ins Feld, und Djokovic war schlicht eine Nuance aktiver, wendiger und, ja, vielleicht noch heißer auf den Sieg.
Aber wie will man das alles bemessen? "Das war das beste Match, das ich in Paris gespielt habe", meinte Djokovic. "Es war ein guter Kampf, ich habe versucht, mein Bestes zu geben, es war nicht mein Tag", sagte Nadal, dem Sieger gratulierend. In 108 Partien in Paris hat Nadal nun dreimal verloren. Einmal, 2009, gegen den Schweden Robin Söderling. Zweimal nun gegen Djokovic (2015, 2021). Der darf jetzt am Sonntag um seinen 19. Grand-Slam-Titel kämpfen, gegen den Griechen Stefanos Tsitsipas, 22, der Alexander Zverev vorher in fünf Sätzen niedergerungen hatte (6:3, 6:3, 4:6, 4:6, 6:3). Damit wäre der Serbe bis auf einen an Nadal und Roger Federer aus der Schweiz herangekommen. Diese French Open haben bis zum Schluss noch etwas zu bieten.