Formel 1 in Suzuka:Ein neuer Weltmeister und keiner bekommt es mit

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"Bin ich Weltmeister? Bin ich es nicht?": Max Verstappen war sich selbst zunächst nicht sicher, ob er sich nun Weltmeister nennen darf oder nicht - er darf. (Foto: Clive Mason/Getty Images)

Alle vermuten, die Titelentscheidung sei vertagt - doch die Formel 1 ruft Max Verstappen zum Champion aus. Ein Beinahe-Crash von Pierre Gasly erinnert an eines der größten Unglücke der Motorsport-Geschichte und löst heftige Debatten aus.

Von Philipp Schneider

Max Verstappen stand vor einer Videowand, er gab dem Moderator Johnny Herbert ein Interview, er hatte ja das Rennen in Suzuka gewonnen. Aber Weltmeister war er noch nicht. 341 Zähler hatte er vor dem Grand Prix in Japan gesammelt in dieser Saison, nun fehlte ihm noch ein Punkt. In Zahlen: 1. Entscheidung vertagt, so dachte er. So dachten alle.

Verstappen verließ die Bühne, stand wieder am Rand, damit seine Podiumskollegen Charles Leclerc und Sergio Perez befragt werden konnten, als er plötzlich wieder von Herbert auf die Bühne vors Mikrofon gerufen wurde. "Max, wir hören gerade, dass Charles eine 5-Sekunden-Strafe erhalten hat, Glückwunsch, du bist Weltmeister!" Wie zum Beweis erschienen nun auf der Videowand einige Jubelanimationen. Nun war es allerdings so: Mit der 5-Sekunden-Strafe hatten alle gerechnet. Leclerc war in der allerletzten Schikane des Rennverlaufs von der Strecke geraten (was selbstverständlich astrein passte in das Gesamtbild dieser vogelwilden Saison der Scuderia), weswegen alle davon ausgingen, dass er seinen zweiten Platz an Verstappens Teamkollegen Perez verlieren würde. Allein: Warum er nun Weltmeister war, das begriff Verstappen noch immer nicht. Begriff niemand - außerhalb des Internationalen Automobilverbands Fia. "Bin ich Weltmeister? Bin ich es nicht?", fragte der 25-jährige Titelverteidiger vor der Siegerehrung. Denn fehlte ihm nicht noch immer ein Punkt?

Fia beruft sich auf Regelklausel - und macht Verstappen so zum Weltmeister

Wegen eines Rennabbruchs und einer mehr als zweistündigen Regenpause war das Rennen nach Erreichen des Zeitlimits beendet worden. Was niemand ahnte: Die Fia berief sich auf eine Klausel und vergab trotzdem die volle Punktzahl, obwohl weniger als die vorgeschriebenen 75 Prozent der 53 Runden absolviert wurden - nämlich nur 28. Diese Regel gelte aber nur, wenn das Rennen nach einer Unterbrechung nicht wieder aufgenommen werden könne, erklärten die Regelhüter mit Verspätung. Die Zahl der absolvierten Runden spielt bei der Punktevergabe also keine Rolle mehr? Wer nach Logik forschte, der entdeckte auch Stunden später noch keine.

Verstappens Lebensgefährtin Kelly Piquet sagte: "Wir haben das alle nicht verstanden, ich glaube, es war sehr verwirrend für Max." "Das war für alle von uns eine Riesenüberraschung", befand Helmut Marko, der Sportdirektor von Red Bull, dessen fröhlicher Gesichtsausdruck noch immer Spuren der Irritation aufwies. Auch, weil dieses fünftletzte Rennen der Saison noch weitere Debatten auslöste, über die noch länger geredet werden dürfte.

Von der Pole Position startete Verstappen am Sonntag, hinter ihm lauerten die Ferrari-Piloten Leclerc und Carlos Sainz, dann folgte sein Teamkollege Sergio Perez. Der Regen war bereits stark in Suzuka, als die Piloten auf Mischreifen auf die anspruchsvolle Strecke rollten. Und er würde noch zunehmen, darüber wurden die Fahrer von ihren jeweiligen Wetterfröschen respektive Regenradarspezialisten informiert. Wie schnell und wie stark, das kam dann doch überraschend. Die Autos rollten nur wenige Meter, dann dämmerte den meisten, dass sie besser Regenreifen angeschnallt hätten.

Vettel kollidiert nach dem Start mit Alonso - Gasly fährt Werbebande spazieren

Die Ampeln gingen aus, Gischt spritzte von den Hinterrädern auf die Visiere. Es herrschten Sichtverhältnisse wie in der Waschanlage. Leclerc rollte schneller los als Verstappen, hatte den Frontflügel bereits vorne, doch der Niederländer blieb hart auf dem Gas und der Ideallinie und erkämpfte sich die Führung in den ersten Biegen wieder zurück. Sebastian Vettel, der voller Wonne von Platz neun ein letztes Mal auf seine Lieblingsstrecke bog, kollidierte vor der ersten Kurve mit Fernando Alonso und fuhr geradeaus. Als nächstes drehte sich Sainz auf einem Wasserfilm in die Werbebande, diese flog hoch in die Lüfte und landete auf der Haube von Pierre Gasly, die der Franzose daraufhin spazieren fuhr. "Was zur Hölle ist das denn?", rief er in den Funk: "Ich kann nach vorne nicht mehr sehen!"

Hier gibt es nichts zu sehen: Bereits kurz nach dem Start wurde das Rennen in Suzuka aufgrund von strömendem Regen unterbrochen. (Foto: Mark Thompson/Getty Images)

Wie gefährlich die Szene für Sainz war, das zeigten diverse Wiederholungen: Der Spanier rollte nach dem Bandenkontakt wieder zurück und stand quer auf dem Asphalt. "Das war der gruseligste Teil", erzählte Sainz später. "Ich stand mitten auf der Strecke, sah Autos kommen - und ich wusste, dass sie mich nicht sehen konnten."

Ein weiteres Teil von Sainz' Ferrari traf das Cockpit von Mick Schumacher, der dessen ungeachtet das Durcheinander nutzte, um sich von Position 15 auf 10 vorzukämpfen. Das Safety Car rückte aus. Und als dann auch noch Alex Albons Japanreise im Kiesbett endete, sah die Rennleitung vor lauter Wasser, fliegenden Teilen und havarierten Autos die Strecke nicht mehr und schwenkte die rote Flagge. Rennabbruch.

Bergungskran auf der Strecke sorgt für Schreckmoment - ausgerechnet in Suzuka

Aber die Piloten waren noch auf der Strecke. Vor allem Gasly, der sich in der Box eine neue Front hatte verpassen lassen und nun mit Tempo versuchte, wieder Anschluss an das Fahrerfeld zu erlangen. Ihm fuhr der Schreck in die Knochen, als er plötzlich am linken Streckenrand ein Bergungsfahrzeug an sich vorbeirauschen sah, das überraschend aufgetaucht war wie der Fliegende Holländer aus dem Nebel. Spät sah er es. Viel zu spät, um darauf mit einem Bremsmanöver zu reagieren. "Was macht dieser Traktor auf der Strecke?", rief er entrüstet. "Ich hätte mich da umbringen können!"

Das Bergungsfahrzeug war schon vor dem Rennabbruch ausgerückt, auch die übrigen Fahrer hatten es passiert - allerdings mit gedrosseltem Tempo hinter dem Safety Car. Und Gasly hatte trotz der rot blinkenden Leuchten am Streckenrand seine Geschwindigkeit nicht annähernd so gedrosselt, wie es vorgeschrieben gewesen wäre. Einerseits.

Andererseits war das schwere Gerät - ohne Zeitnot - unmittelbar auf die Strecke gerollt, als sich noch Autos auf der Piste befanden.

Ausgerechnet hier, in Suzuka?

Auf jener Strecke, auf der die Formel 1 vor acht Jahren eine der bittersten Lektionen ihrer Geschichte gelernt hatte. Nach einem Unfall von Adrian Sutil kollidierte Marussia-Pilot Jules Bianchi bei ähnlich schlechten Sichtverhältnissen mit einem ähnlichen Bergungskran. Nach neun Monaten im Koma erlag er seinen Verletzungen.

Gasly fuhr zu schnell, hatte aber kaum Vorwarnzeit - und das Bergungsfahrzeug eigentlich keine Eile

Die Fia untersuchte den Vorfall und belegte Gasly sehr viel später mit zwei Strafpunkten und einer 20-Sekunden-Strafe, weil er eben trotz roter Flaggen an einer Stelle verbotenerweise sogar 251 Stundenkilometer auf der nassen Strecke gefahren war. Noch während des Rennens veröffentlichten die Kommissare eine Stellungnahme: Die roten Flaggen seien geschwenkt worden, bevor "Auto 10 den Ort des Vorfalls passierte, an dem es in der vorherigen Runde beschädigt worden war". Das mochte die korrekte Lesart entsprechend der Regularien sein.

Kleiner und größerer Schreck: Pierre Gasly flog zunächst eine Werbebande aufs Auto, später kollidierte der Franzose beinahe mit einem Bergungsfahrzeug. (Foto: Philip Fong/AFP)

Dennoch gab es offensichtlich gute Gründe, weswegen die Formel 1 eine Wiederholung der Fast-Kollision mit dem Geistertruck zunächst nicht in ihr offizielles TV-Bild übernahm. Denn dort war zu sehen, dass Gasly kaum Vorwarnzeit blieb, die roten Lampen flackerten erst wenige Sekunden vor der Begegnung auf. Noch mal: Nichts hätte dagegen gesprochen, mit den Bergungsarbeiten zu warten, bis sich alle Autos in die Sicherheit ihrer Boxengasse begeben - oder zumindest den Anschluss an das Safety Car gefunden hätten. Es gab ja keinen Piloten auf der Strecke, der Erste Hilfe benötigte.

Unaufhörlich ging der Regen nieder. Und dann begann die Warterei. Düstere Erinnerungen an einen anderen Grand Prix kamen nun auf. An jenen von Spa im vergangenen Jahr. Nach heftigen Regenfällen, Startabbrüchen und Verschiebungen startete die Formel 1 in den verregneten Ardennen eine Renn-Farce mit lediglich zwei Runden hinter dem Safety-Car vor einem Rennabbruch - und wertete Verstappen als Sieger mit halber Punktzahl.

Fahrer und Verantwortliche äußern sich empört über Beinahe-Crash

Und während der Warterei nahm die Debatte über Gaslys Beinahe-Katastrophe an Fahrt auf. "Was zur Hölle. Wie konnte das passieren?", schrieb Lando Norris auf Twitter. "Wir haben vor Jahren ein Leben durch einen solchen Zwischenfall verloren. Wir riskieren unser Leben. Speziell in solchen Verhältnissen. Wir wollen Rennfahren. Aber das ist inakzeptabel." Sergio Perez äußerte sich ebenfalls schriftlich: "Wie können wir klarmachen, dass wir niemals einen Kran auf der Strecke sehen wollen?"

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"Das ist völlig inakzeptabel", befand auch Christian Horner von Red Bull. "Es muss eine gründliche Untersuchung geben, weshalb das Fahrzeug auf der Strecke war." Frédéric Vasseur, der Teamchef von Alpha Romeo, nahm Gasly in Schutz: "Es ist bei solchen Bedingungen egal, ob er 250 oder 50 km/fährt. Er kann einfach nicht ausreichend nach vorne sehen."

136 Minuten nach dem eigentlichen Rennstart rollten die Piloten wieder los, diesmal auf Regenreifen, mit einer Schleichfahrt hinter dem Safety Car. 41 Minuten vor Ende des Zeitlimits gab Bernd Mayländer das Rennen wieder frei.

Leclerc erkundigte sich, wie viele Positionen er im Falle eines Boxenstopps verlieren würde. Heute sollte ja der Titel doch noch nicht an Verstappen gehen. "Fünf", antwortete sein Team. Leclercs Reifen gaben mal wieder stärker nach als jene von Verstappen. Eine Viertelstunde vor Schluss hatte der Niederländer einen Vorsprung von 14 Sekunden herausgefahren. Sein Teamkollege Perez rückte Leclerc immer dichter ans Heck, machte Druck - in der allerletzten Schikane scheuchte er ihn von der Strecke.

Bei Red Bull verwarfen sie die Idee, Verstappen auf frischen Reifen auf die Jagd nach der schnellsten Rennrunde zu schicken, um den einen Punkt zu holen, der noch fehlen würde. Dass es auch so zur Titelverteidigung des Niederländers reichen würde, konnten die Verantwortlichen bei Red Bull nicht ahnen.

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