Formel 1 in Saudi-Arabien:"Fühle ich mich hier wohl?"

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Lewis Hamilton aus Großbritannien vom Team Mercedes spricht während einer Pressekonferenz auf dem Corniche Circuit. (Foto: Hassan Ammar/dpa)

Bei der Premiere in Saudi-Arabien kann sich eine der spannendsten Formel-1-Weltmeisterschaften der Geschichte entscheiden. Aber Lewis Hamilton muss erst mal über Folter und Todesstrafe reden.

Von Philipp Schneider

Soll es jetzt wirklich hier zu Ende gehen? Auf dem Dschidda Corniche Circuit? 7897 Al Kurnaysh Rd, Ash Shati District, Dschidda 23512, Saudi-Arabien? An einer Adresse, die es im April dieses Jahres noch gar nicht gab? Menschenrechtsorganisationen sagen: aus gutem Grund noch nicht gab?

Vor acht Monaten sind erstmals die Bagger ausgerückt, um direkt an der Küste bei Dschidda ein Asphaltband zu planieren, das selbstverständlich sämtliche Rennstrecken auf dem Planeten wie Carrera-Bahnen aussehen lassen sollte. Nun ist das deutsche Architekturbüro Tilke gerade rechtzeitig fertig geworden mit seiner Hauruck-Baustelle in der Wüste. Gratulation. 6,174 Kilometer lang ist das eng geschlungene Band. 27 Kurven. In den meisten dieser Kehren müssen die Fahrer kaum bremsen, das Durchschnittstempo liegt bei über 250 km/h, nur die legendäre Strecke in Monza ist noch rasanter. In Monza allerdings werden keine Geständnisse unter Folter erzwungen. In Italien gibt es keine Todesstrafe.

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Kommentar von Philipp Schneider

Die Formel 1 ist selbst schuld, dass sich jetzt alles miteinander vermengt und der Sport eigentlich mit rotem Kopf in die Kulisse treten müsste wie ein beschämter Statist. Niemand hat die Serie gezwungen, erstmals ein Rennen nach Saudi-Arabien zu vergeben. Sie könnte auch erst an diesem Wochenende in Brasilien oder Mexiko kreisen, wo sie diesmal schon früher zu Gast war. Oder auf dem Nürburgring. In der Eifel werden allerdings keine Schecks über 800 Millionen Euro für zehn Jahre Kreisverkehr ausgestellt.

Und so ist es nun also Dschidda, wo ein toxisches Amalgam an Debatten entsteht.

Hat Hamilton den Brief erhalten? Von der Schwester des in der Todeszelle sitzenden, angeblichen Drogenkuriers?

Theoretisch ließe sich über die acht Punkte Vorsprung von Max Verstappen auf Lewis Hamilton plaudern, zwei Rennen vor Ende der Saison. Ist das spannend! Dazu das große Prickeln, weil niemand mit Gewissheit sagen kann, ob diese unbekannte Strecke eher Hamiltons Mercedes oder doch Verstappens Red Bull liegt, nicht wahr? Doch am Donnerstag sitzt Hamilton zunächst einmal in der Pressekonferenz, und ein Reporter möchte von ihm wissen, ob er den Brief erhalten hat.

Welchen Brief?

Den Brief von Zeinab Abu Al-Kheir, deren Bruder, ein 56-jähriger Ehemann und Vater von acht Kindern aus Jordanien, vor fünf Jahren in Saudi-Arabien wegen Drogendelikten in die Todeszelle gesteckt wurde. Die Schwester sagt, ihr Bruder sei unwissentlich als Drogen-Maultier missbraucht worden, als er als Fahrer arbeitete. Sie sagt, ihr Bruder habe seine Unschuld beteuert, sei aber zu einem falschen Geständnis gefoltert und dann zum Tode verurteilt worden. An Hamilton habe sie geschrieben, weil er kürzlich am Rande des Rennens in Katar gesagt habe, es sei die "Pflicht" der Formel 1, das Bewusstsein für Menschenrechte zu schärfen.

Er wisse nicht, welcher Brief genau gemeint sei, sagt Hamilton. Er bekommt ja tatsächlich sehr viele. Lauter schriftliche Hilferufe. Weil er doch weiterhin als der einzige Aufrichtige gilt im Unterhaltungsbetrieb der Formel 1. Alle anderen, allen voran der Formel-1-Boss Stefano Domenicali, erzählen lieber die doch ständig von der Realität widerlegte Mär vom Wandel zum Guten durch die profane Anwesenheit von Menschen, die Unrecht ablehnen. Als ob in Saudi-Arabien weniger Menschen hingerichtet würden, nur weil Justin Bieber mit Glitzer und Pompom auf die Bühne tritt und "Love yourself" trällert.

Love yourself? "Sing nicht für die Mörder meines geliebten Jamal", flehte Hatice Cengiz kürzlich in einem Gastbeitrag für die Washington Post in Biebers Richtung. In jener Zeitung, in der auch ihr Verlobter, der regimekritische Journalist Jamal Khashoggi, regelmäßig Kolumnen verfasste. Ehe er 2018 im saudi-arabischen Konsulat in Istanbul auf bestialische Weise umgebracht wurde; er wollte sich dort Dokumente für seine Heirat mit Cengiz abholen. Ein Mord, für den US-Geheimdienste im Februar dieses Jahres Kronprinz Mohammed bin Salman persönlich verantwortlich machten.

"Fühle ich mich hier wohl?", fragt sich Hamilton am Donnerstag irgendwann selbst, als das Thema mit dem Brief durch ist. "Ich würde nicht sagen, dass ich es tue. Aber es ist nicht meine Wahl, hier zu sein. Der Sport hat sich entschieden, hier zu sein."

Und jetzt ist der Sport halt selbst schuld, dass er versuchen muss, die Menschen zu unterhalten in einem von Menschenrechtsdebatten verminten Gebiet. Selbst schuld, dass sich Hamilton nicht wohlfühlt an einem Ort, in dem er den vorletzten Baustein setzen könnte auf dem Weg zum achten Titel, nach dessen Gewinn er, wenn er auf die Zahlen schaut, der größte Rennfahrer der Geschichte sein wird. So komplex ist die Lage, dass selbst diejenigen mit dem guten Herzen, die Haltung zeigen und einen liberalen Wandel vorantreiben wollen, Gefahr laufen, in die PR-Falle des Königreichs zu tappen.

Sebastian Vettel beispielsweise hat am Donnerstag in Dschidda eine Karting-Veranstaltung für junge Frauen veranstaltet. Er habe "versucht, einige meiner Erfahrungen im Leben und auf der Strecke weiterzugeben, um gemeinsam etwas zu unternehmen, das ihr Selbstvertrauen stärkt", sagte Vettel danach. Es gebe "natürlich auch viele Missstände, die man aufzeigen könnte, aber wir wollten die Stimmung transportieren, dass etwas passiert". Die Erfahrung sei "inspirierend" gewesen. Alles zweifelsfrei löblich. Jetzt aber gibt es ein Hochglanzfoto, das um die Welt geht: Der viermalige Weltmeister Vettel, eingerahmt von glücklich lächelnden Frauen, drei links, drei rechts. Kopftuch auf dem Kopf, Helm in der Hand. Die Botschaft: Es geht was voran im Land, in dem Frauen bis vor vier Jahren nicht einmal Auto fahren durften!

Mit guten Absichten: Sebastian Vettel. (Foto: Andy Hone/Motorsport Images/Imago)

Dabei hat Human Rights Watch in dieser Woche einen Brief an die Formel 1 geschrieben und dazu aufgefordert, sich im Namen jener Frauen zu engagieren, die dazu beigetragen haben, den Wandel herbeizuführen. Aktivistinnen seien zwar freigelassen worden, nachdem sie friedlich für ihr Recht auf Autofahren protestiert hatten. Allerdings nach drei Jahren Haft. Nach wie vor, schreibt Human Rights Watch, seien sie zu Bewährungsstrafen verurteilt, sie dürften nicht reisen oder sich über ihre Inhaftierung äußern. Vettel erklärte auf der Pressekonferenz, es bringe nichts, sich nur auf Negatives zu konzentrieren. Es sei die "mächtigere Waffe", positive Dinge voranzutreiben. Mag sein, dass er recht hat. Mag ebenfalls sein, dass es in der Außenwirkung des Bildes mit sechs Frauen aus Saudi-Arabien, die zumindest so aussehen, als stünde ihnen die Welt offen, keinen großen Unterschied macht, ob sie Vettel einrahmen oder den Kronprinzen.

Überhaupt, die Bilder. Sie werden bleiben, wenn der Waschgang vollendet ist. Darum ja das viele Geld, das Saudi-Arabien einschmeißt in die Maschine. Die Bilder der "wunderschönen Kulisse, so direkt am Roten Meer", wie der Streckenarchitekt Carsten Tilke im Fachblatt Motorsport-Total schwärmt. "Es wird auch vor der Kamera großartig aussehen, besonders wenn die Sonne untergeht." Ein Teil der Strecke führe zudem an einer Lagune entlang, "die Autos fahren dann sozusagen durch das Wasser". Auch das noch: Es wird ein Wunder geschehen!

Geht der Titelkampf also ausgerechnet auf dem Dschidda Corniche Circuit zu Ende? Ein Szenario geht so: Verstappen gewinnt, holt den Extrapunkt für die schnellste Rennrunde, Hamilton wird maximal Sechster. Es geht jetzt um die kleinen Zahlen. Acht Punkte sind viel weniger als die 184 Hinrichtungen, die Amnesty International allein 2019 in Saudi-Arabien zählte.

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