Formel 1 in Baku:Qualmende schwarze Pferdchen

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Nichts geht mehr: Der Ferrari von Charles Leclerc in Baku. (Foto: Glenn Dunbar/Imago/Motorsport Images)

Ferrari erlebt ein Fiasko: Beim Großen Preis von Aserbaidschan scheiden beide Fahrer mit Defekten aus. Charles Leclerc fällt in der WM-Wertung zurück. Kippt der Titelkampf schon frühzeitig in Richtung von Red Bull?

Von Philipp Schneider

Durch die Box von Ferrari schwappte eine La Ola der Enttäuschten. So etwas gibt vielleicht nicht im Fußball, aber durchaus in der Formel 1. Die Mechaniker, die in ihre Ruhepausen zwischen den Boxenstopps in mehreren Reihen hintereinander auf schwarzen Klappstühlen sitzen und das Rennen überwiegend diszipliniert auf dem Bildschirm verfolgen, sie wippten plötzlich wie in einer einstudierten Choreografie mit dem Oberkörper nach hinten und warfen vor Entsetzen ihre Arme in die Höhe. Mamma mia! Santo cielo!

20 Runden waren gefahren, da mussten sie ansehen, wie Qualm aus dem Dienstwagen von Charles Leclerc in kleinen Wölkchen gen Himmel stieg. Dazu fingen die Bordmikrofone hochtouriges Gejaule ein, so schrill, dass es den berufsmäßigen Schraubern der Scuderia garantiert mehr Schmerzen bereitete, als führe der Lehrer mit Kreide kratzend über die Schultafel. Aus, vorbei. Motorschaden bei Leclerc. Wie in Barcelona.

Formel 1 in Baku
:Desaster für Ferrari - Verstappen gewinnt

Charles Leclerc und Carlos Sainz müssen in Aserbaidschan ihre Autos abstellen. Max Verstappen baut seine WM-Führung aus.

Und weil zuvor schon der zweite rote Flitzer von Carlos Sainz abgestellt werden musste mit einem Defekt an der Hydraulik, erlebte die Scuderia beim Großen Preis von Aserbaidschan die Höchststrafe: Doppelausfall im Titelkampf. Ohnmächtig musste Teamchef Mattia Binotto in der Folge ansehen, wie Max Verstappen im Red Bull unbedrängt wie ein wuchtiger Überseefrachter zum Rennsieg dampfte. Dass er dabei auch noch seinen Teamkollegen Sergio Perez im Schlepptau hinter sich zog, machte die Situation für Ferrari nicht gerade erträglicher.

Leclerc liegt in der WM-Wertung nur noch auf Platz drei - 34 Punkte hinter Verstappen. Das Podium komplettierte der formidable Mercedes-Pilot George Russell, etatmäßiger Juniorpartner von Lewis Hamilton. Der siebenmalige Weltmeister beschwerte sich im Funk mal wieder sehr regelmäßig über mögliche osteopathische Folgen der weiterhin ungebändigten Hoppelei der Silberpfeile auf den Geraden - Stichwort: "Bouncing" - und wurde Vierter. Humpelnd stieg er aus seinem Auto. Und sagte: "Ich kann den Schmerz nicht beschreiben, den man verspürt. Man betet nur darum, dass das Rennen zu Ende geht."

Sainz sagt: "Wenn die Zuverlässigkeit nicht da ist, wird es schwierig"

Leclerc stand bald darauf in der Boxengasse, schüttelte unentwegt den Kopf, wippte mit den Schultern und sprach in ein Sky-Mikrofon: "Ich finde nicht die richtigen Worte, um das zu beschreiben. Wir müssen uns die Situation wirklich anschauen. Eigentlich haben wir das Auto ja verbessert. Persönlich kann ich sagen: Es schmerzt." Auch Sainz begab sich zum Interview. "Die Zuverlässigkeit ist natürlich das Hauptziel", gab der Spanier enttäuscht zu Protokoll. "Und das Team weiß eigentlich, dass es sich in der Hinsicht stark verbessern muss. Wenn die Zuverlässigkeit nicht da ist, wird es schwierig. Aber wir stehen weiter zusammen."

Ach, Ferrari. Jetzt haben sie endlich mal wieder ein weltmeistertaugliches Auto. Und dann schlagen sie sich selbst. Zwei technische Defekte wie nun in Baku gab es in dieser Saison zwar noch nicht bei den schwarzen Pferdchen. Aber rechnet man den späteren Ausfall von Kevin Magnussen hinzu, Mick Schumachers Teamkollegen bei Haas, und jenen von Zhou Guanyu im Alfa Romeo, die ebenfalls auf Motoren aus Maranello vertrauen, waren es sogar vier Ausfälle. Zuvor schon, beim Rennen in Monaco, hatte sich Ferrari mit einer falschen Boxenstrategie um den Rennsieg gebracht.

Ach, Ferrari: Der enttäuschte Carlos Sainz abseits der Strecke. (Foto: Xavi Bonilla/Imago/PanoramiC)

Apropos Schumacher: Nach seinem kapitalen Crash in Monaco leistete er der Vorgabe seines Teamchefs Günther Steiner Folge und brachte seine Haas zumindest ohne Schaden ins Ziel. Allerdings wurde er, als Letzter gestartet, lediglich 14. und wartet weiter auf seinen ersten Punkt in der Formel 1. Sebastian Vettel wurde Sechster im Aston Martin.

Perez, der Sieger von Monte Carlo, hatte sich wie schon im Fürstentum auch bei der Zeitenjagd in Baku vor seinen Teamkollegen Verstappen geschoben. Und wie bei der berühmten Rundfahrt am Hafen waren beide Red Bull auch in Aserbaidschan im Qualifying langsamer als Leclerc. So stellte sich mal wieder die Frage: Mit welcher Strategie schafft man es am elegantesten vorbei, diesmal auf der tückischen Raserei durch die engen Häuserschluchten in der Altstadt von Baku?

Leclerc verbremst sich gleich in der ersten Kurve

Die Ampeln gingen aus, und die Antwort stieg vor Perez' Augen in Form von kleinen Nebelschwaden von Leclercs Vorderrad in den Himmel: Leclerc verbremste sich gleich in der ersten Kurve, der Mexikaner schlängelte sich ohne Gegenwehr vorbei. Ferrari sah seine Rennstrategie schon nach den ersten Metern sogleich auf den Kopf gestellt. Anstatt die Red Bull auf den Plätzen zwei und drei im Sandwich zu wissen, versuchte nun Leclerc vergeblich, den Anschluss an Perez zu halten, während ihn von hinten Verstappen bedrängte. "Die Red Bull sehen schnell aus", funkte Carlos Sainz auf Rang vier, um das Offensichtliche in Worte zu fassen.

Nach sechs Runden hatte Sainz schon gut vier Sekunden Rückstand auf Verstappen. Da sich aber nicht nur Leclerc wunderte, warum sich Perez mit dem temposeitig überlegenen Dienstwagen nicht schneller von ihm entfernte, äußerten sie bei der Scuderia eine Vermutung: "Wir glauben, dass Perez mit der Traktion kämpft."

Sieger des Tages: Max Verstappen. (Foto: Natalia Kolesnikova/AFP)

Neun Runden dauerte es, ehe das in Baku fast schon traditionelle Safety Car erstmals angefragt wurde. Sainz stellte seinen Ferrari in Kurve sieben ab, der Eingangsschleife in die Rundfahrt durch die Altstadt. Die allseits geschätzte virtuelle Variante der Verkehrsberuhigung wurde aktiviert. Leclerc nutzte die Gelegenheit für einen zeitlich überaus vorgezogenen Reifentausch. Und gerne hätte man erfahren, ob dieser mutige Schritt sich ohne Motordefekt ausgezahlt hätte. Die Red Bull blieben auf der Strecke - wie sich später herausstellte: wegen eines Kommunikationsproblems im Funk - und übernahmen eine Doppelführung. Leclerc fiel zurück hinter Verstappen, rollte nun aber auf den frischeren Reifen fast 13 Sekunden hinter dem Niederländer.

Auf Position zehn nutzte auch Vettel die Gunst des Safety Cars für einen Satz nagelneuer Gummis; beim folgenden Versuch jedoch, Esteban Ocon zu überholen, verpasste er die Kurve, musste den Notausgang nehmen - und drehte dann blitzgescheit und technisch gekonnt seinen Aston Martin, ehe er weiterfuhr.

An der Spitze ließ Perez seinen Teamkollegen in der Folge so widerstandslos passieren, dass dies die Frage aufwarf, ob eine Akzeptanz einer Nummer-zwei-Klausel Grundlage für die kürzlich erfolgte Verlängerung seines Vertrags sein könnte. Nach 17 Runden lockte Red Bull den Mexikaner dann in die Boxengasse. Knapp, aber gerade noch zeitig schob er sich vor dem Silberpfeil von George Russell auf die Bahn. Leclerc befand sich nun wieder im Sandwich, verkürzte aber den Abstand auf Verstappen mit Sieben-Meilen-Reifen. Nach 19 Umdrehungen steuerte Verstappen erstmals seine Versorgungsgasse an - und der Pole-Setter Leclerc, der die Führung in Kurve eins verloren hatte, war wieder in Front.

Der Kampf um den Rennsieg hätte zum Thriller werden können. Wäre kurz darauf nicht Qualm in kleinen Wölkchen aus Leclercs Wagen aufgestiegen.

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