Vermutlich wackelt das Tornetz im Stadion an der Stamford Bridge noch immer. Zwar hat die altertümliche Spielstätte des FC Chelsea, die bereits 1877 ihre Pforten öffnete, schon alle möglichen Treffer erlebt. Aber die Wucht, mit der der Ball am Samstag zwischen den Pfosten ankam, erinnerte an einen Donnerschlag. Aus 35,1 Metern nahm Antonio Rüdiger im Ligaduell mit dem FC Brentford Maß und jagte die Kugel in den Winkel - nach fast fünf Jahren im Trikot der Londoner, in denen er sich fast in jedem Spiel an einem solch wuchtigen Kunststück versucht hatte. Neben der Schnellkraft, über die Rüdiger dank enormer Physis und Hebel verfügt, bestach sein Treffer durch Koordination und Ballfertigkeit - und vor allem: durch Mut. Welcher (Abwehr-)Spieler traut sich schon, aus dem Nirwana des Spielfelds aufs Tor zu bolzen? Nur David Luiz (35,4 Meter/2013) und Frank Lampard (41,2/2007) trafen für Chelsea seit Beginn der Datenerfassung aus größerer Distanz.
Am nächsten dran stand bei der Szene Angreifer Kai Havertz, der wohl aus Schreck und Verblüffung zugleich die Hände über den Kopf zusammenschlug. Rüdiger hingegen rannte nach dem Tor wie berauscht zu seinem Trainer, um sich zu bedanken. Der deutsche Nationalspieler schien zu wissen, dass sein Kunstschuss ohne Thomas Tuchel kaum möglich gewesen wäre. Im Januar 2021, als Tuchel den geschassten Frank Lampard ablöste, begann für Rüdiger eine Renaissance in der Mannschaft wie für keinen anderen Chelsea-Profi. Seitdem steht er als der wohl konstanteste Spieler exemplarisch für den Wiederaufstieg des Teams zu einem Titelanwärter - auch wenn das Ligaspiel am Samstag nach Rüdigers 1:0 irritierend hoch verloren wurde (1:4).
Rüdiger war fast abserviert - doch mit der Ankunft von Thomas Tuchel änderte sich das Bild
Alle Augen richten sich deshalb auch am Mittwoch auf Rüdiger, 29, wenn Chelsea im Viertelfinal-Hinspiel der Champions League Real Madrid empfängt. Die Neuauflage des Halbfinales 2021 bietet dem Verteidiger, dessen Arbeitspapier in London am Saisonende ausläuft, eine öffentlichkeitswirksame Gelegenheit, für einen neuen Vertrag vorzuspielen - sofern das angesichts seiner zurückliegenden Leistungen überhaupt noch notwendig ist. Dem Vernehmen nach geben sich die renommiertesten Klubs bei ihm die Klinke in die Hand, um eine Verpflichtung auszuloten. Rüdiger kann seinen künftigen Klub in gewisser Weise auswählen.
Champions League:De Bruyne macht den Unterschied - auch Liverpool siegt
Manchester City tut sich gegen Atlético Madrid lange schwer, ehe Kevin De Bruyne mit seinem Tor für eine gute Ausgangslage sorgt. Der FC Liverpool muss in der zweiten Hälfte nur kurz zittern.
Das ist beinahe eine 180-Grad-Wende zu Rüdigers Situation vor anderthalb Jahren, als ihn Lampard in einem Machtspiel ohne Vorwarnung abserviert hatte. Statt die Flucht zu ergreifen, entschied sich Rüdiger (auch mangels passender Angebote), bei Chelsea zu bleiben. Obwohl monatelang außen vor, zeigte er neben seinem Frohmut eine bemerkenswerte Arbeitsmoral und Willensstärke. So hielt er sich in Form, um sofort einsatzbereit zu sein, wenn sich eine Chance auftut.
Die ergab sich, als Tuchel quasi mit der ersten Amtshandlung eine neue Abwehr-Dreierkette formierte - mit Rüdiger auf halblinker Position. Seitdem ist der deutsche Nationalspieler in keinem einzigen Pflichtspiel ausgewechselt worden - eine Bilanz, die ebenso beachtlich ist wie sein Tor am Wochenende. Obwohl Rüdiger wohl nicht an die Prominenz seines Landsmanns Havertz heranreicht, der Chelseas Siegtreffer in den Endspielen der Champions League 2021 und der Klub-WM 2022 erzielte, und obwohl er auch nicht die Eleganz des Abwehrroutiniers Thiago Silva oder die Geschmeidigkeit des Mittelfeld-Abräumers N'Golo Kanté besitzt, ist er das unverwüstliche Rückgrat der Mannschaft.
Derzeit ist es Chelsea nicht erlaubt, bestehende Verträge zu verlängern
Im Verlauf der Saison bewies Chelsea, auf so ziemlich jeden Profi für absehbare Zeit verzichten zu können. Doch für Rüdiger, den emotionalen Anführer, der sein aufbrausendes Temperament zuletzt gut unter Kontrolle hatte, findet sich keine Alternative. Er scheint inzwischen in die Phalanx der Top-Verteidiger des europäischen Spitzenfußballs vorgedrungen zu sein, obwohl ihm das vor Jahren kaum einer zugetraut hatte.
Neben der eher seltenen Kombination aus Robustheit und Dynamik kennzeichnet sein Spiel jetzt eine Fehlerlosigkeit, die selbst das Trainerteam um Tuchel anfangs nicht für möglich gehalten hätte. Das zeigt sich speziell im Spielaufbau, wo Rüdigers Offensivdrang - er war in der Jugend Stürmer - fast ein Alleinstellungsmerkmal im Inselfußball ist. Nur ein Faktor trägt seiner sportlichen Entwicklung bei Chelsea bisher nicht Rechnung: die Bezahlung.
2017 verpflichtete der Verein Rüdiger für 35 Millionen Euro von AS Rom als Nachfolger des langjährigen Abwehrchefs John Terry und gab ihm einem Fünfjahresvertrag. Der brachte ihm kolportierte sechs Millionen Euro pro Saison. Diese Abmachung besteht weiter in ihren Grundzügen, weil zunächst Chelsea bei einer Vertragsverlängerung zögerte - und danach Rüdiger seinerseits keinen Anlass dazu sah. Stattdessen trieb er seinen Marktwert über Leistung weiter nach oben, bis Chelsea im Winter mit einem stark verbesserten Angebot auf ihn zukam und in etwa das Doppelte an Gehalt in Aussicht stellte.
Dabei beging der Klub jedoch den Fehler, die Modalitäten nicht zügig zu beenden. Denn kurz darauf belegte die britische Regierung Chelsea im Zuge der Sanktionen gegen Eigentümer Roman Abramowitsch mit einem Geschäftsembargo. Aktuell ist es Chelsea nicht erlaubt, bestehende Verträge zu verlängern, nicht mal Verhandlungen mit eigenen Spielern dürfen geführt werden.
Die Hängepartie kommt nun weder dem Klub noch Rüdiger entgegen. Am liebsten würde der Publikumsliebling aufgrund seiner hart erarbeiteten Reputation wohl bei Chelsea bleiben. Allerdings könnte Rüdiger bald in Zugzwang geraten, sofern andere Vereine ihn zu einer schnellen Entscheidung drängen. Erschwerend kommt hinzu, dass die Zukunft des gesamten FC Chelsea in den Sternen steht.