Der DFB-Sportdirektor Hansi Flick hat kürzlich wieder mal beim Training des FC Bayern zugeschaut, er hat viele spannende Dinge gesehen. Das Spannendste war dieser kleine Fußballer, der einem "beim Zuschauen die Tränen in die Augen treibt", wie Flick sagt. Thiago Alcàntara, 23, hat ein paar Pässe gespielt, die vielleicht nur Thiago Alcàntara spielen kann.
Es waren jene Pässe, die den Bayern jüngst gegen Mönchengladbach gefehlt haben, scharfe, schnelle Bälle, bei deren Ansicht jeder versteht, warum Trainer Guardiola diesen Profi für das idealtypische Guardiola-Spiel dringend braucht. Gegen Gladbach stand Thiago übrigens wieder im Kader, aber das heißt nicht, dass Guardiola ihm das Bayern-Mittelfeld jetzt schon wieder anvertrauen kann.
Die Nominierung sei auch "ein aufmunterndes Zeichen an den Spieler" gewesen, heißt es bei Bayern, aber sie bleiben vorsichtig mit ihm. Zu viel ist passiert seit dem 29. März 2014.
Das Verhältnis zwischen Medizinmann und Trainer wird zum Machtkampf
Thiago hat am Wochenende Jahrestag, aber es ist kein Jahrestag, der Lust auf eine Feier macht. Am 29. März 2014 zieht sich Thiago nach einem Pressschlag mit Hoffenheims Kevin Volland einen "ausgedehnten Teilriss des Innenbandes im rechten Knie" zu, wie der FC Bayern damals auf der eigenen Homepage meldet; das ist keine Verletzung, die einen Profi ein Jahr lahm legt. Normalerweise. An diesem Fall aber ist nichts normal, er wird den FC Bayern monatelang umtreiben, atmosphärisch wirkt der Fall bis heute nach.
Thiagos Knie wird mit einem Gips ruhig gestellt, die erste offizielle Bayern-Prognose lautet: sechs bis acht Wochen Pause. Es droht das Saison-Aus, Champions-League-Finale und WM sind akut gefährdet. Im Mai trainiert Thiago aber wieder - und reißt sich das Band erneut.
Es folgt: eine Operation. Fünf Monate später, Thiago nimmt wieder am Mannschaftstraining teil, reißt er sich erneut das Innenband, zumindest einen Teil; der FC Bayern teilt mit, die Verletzung sei "aufgrund einer Narbeninsuffizienz" aufgetreten - die geflickte Stelle des Innenbandes war also einer zu hohen Belastung ausgesetzt. Thiago fragt: "Warum immer ich?"
Eine gute Frage. Die Antwort reicht für einen erbitterten innenpolitischen Streit. Beim FC Bayern arbeitet seit Jahrzehnten Hans-Wilhelm Müller-Wohlfahrt als Mannschaftsarzt, die Spieler nennen ihn "Mull" oder "Medizinmann", wegen seiner langen Haare, seines Teints. Und weil er einen eigenen Ansatz hat; angeblich erkennt er manche Verletzungen, indem er mit zwei Fingern die Muskelspannung testet.
Müller-Wohlfahrt hat seine Praxis am Alten Hof in der Münchner Innenstadt, dorthin pilgern die verletzten Spieler. Ein Zustand, der Pep Guardiola in München von Anfang an irritiert. Als Trainer des FC Barcelona war er es gewohnt, dass der Arzt immer einsatzbereit am Rasenrand steht - und dass dieser alles unternimmt, um einen Profi so schnell wie möglich fit werden zu lassen. Angeschlagene Profis sind bei Barça oft zu Auswärtsspielen mitgereist, um kurz vor dem Anpfiff ein letztes Probetraining zu absolvieren.
Das Verhältnis zwischen Medizinmann und Trainer entwickelt sich zum Machtspiel. Beide misstrauen einander herzlich, weswegen Guardiola nach Thiagos erstem Innenbandriss eine eigenwillige Entscheidung trifft. Er schickt Thiago nicht zum Medizinmann in den Alten Hof, sondern nach Barcelona - zum Missvergnügen der Bayern-Bosse, die den Krankentransport aber nicht verhindern, um den Trainer nicht zu vergrätzen. Guardiola schickt Thiago zu einem Arzt, dem er seit vielen Jahren vertraut. Zu Ramón Cugat.
Das sei "vielleicht ein großer Fehler gewesen", sagt Guardiola Monate später, nach Thiagos dritter Verletzung. Kaum gesagt, fliegt Thiago wieder nach Barcelona.
Die Gefahr einer Folgeverletzung steigt
Cugat, Orthopäde wie Müller-Wohlfahrt, aber mit professoraler, weniger medizinmännischer Erscheinung, hat Ende der Sechziger für Barça gespielt, nach dem Karriereende bleibt er dem Klub verbunden, behandelt immer wieder Spieler, auch Guardiola. Er spezialisiert sich auf Knieverletzungen. Unter den Mannschaftsärzten der deutschen Bundesliga ist Cugat eher unbekannt. Dennoch wird er die Hauptfigur in Thiagos Geschichte.
Nachdem Thiago sich im Mai 2014 das zweite Mal das Innenband gerissen hat, wird erstmals öffentlich geraunt, dass Thiago von Cugat mit Cortison behandelt worden sei, einem Steroidhormon, das entzündungshemmend wirkt. Kommt es nach einem Riss zu einem Gelenkerguss im Knie, kann Cortison diesen reduzieren, es nimmt also Druck vom Knie. Der Spieler spürt weniger Schmerzen, er bewegt sich kaum anders als mit gesunden Bändern. Laien könnte Cortison daher dazu verführen, nach einer Verletzung den Körper wieder früher voll zu belasten.
"Zur Behandlung eines Innenbandrisses eignet es sich überhaupt nicht", sagt der Arzt eines Bundesligisten; üblicherweise würden Innenbandrisse bei Fußballern konservativ behandelt, mit Gips und Schiene, nach acht Wochen sei der Spieler meist wieder fit. Cortison dagegen habe einen eiweißverdauenden Effekt, es schade den Zellen in Sehnen und Knorpeln, die Struktur des Bindegewebes werde brüchiger, Muskeln würden abgebaut. Die Gefahr einer Folgeverletzung steigt.
Cugat schweigt monatelang zu den Vorwürfen, die international durch die Medien geistern. Erst als der FC Bayern im Oktober öffentlich über eine Narbeninsuffizienz spricht, meldet sich Cugat auf Twitter zu Wort (siehe Ausriss). Keineswegs habe er Thiago mit Cortison behandelt, vielmehr habe er Wachstumsfaktoren (Growth factors) eingesetzt, schreibt Cugat - eine Methode, die er seit Anfang der Nullerjahre anwende. Was genau Cugat mit Wachstumsfaktoren meint, bleibt offen.
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Bekannt ist nur, dass Cugat früher Wachstumsfaktoren im Plasma des Eigenblutes angereichert hat - eine umstrittene Behandlung, weil es keine eindeutigen Studien gibt. Anders als Wachstumshormon sind Wachstumsfaktoren legal, die Welt-Anti-Doping-Agentur Wada verbietet diese Methode nicht. Andere Ärzte sehen in der Twitter-Mitteilung aber eher den Versuch, "Unschärfe" in die Behandlungsmethoden zu bringen. Auf eine Anfrage, wie genau er Thiago behandelt habe, reagierte Cugat nicht.
Es bleibt also das Rätsel um den Körper eines jungen Sportlers, der in einen Machtkampf geraten ist, der dem Klub einiges abverlangt hat. Denn es geht in dieser Geschichte auch um die Frage, wie weit ein Verein seinem Coach entgegenkommen darf, ohne seine Prinzipien zu verraten.
Kein Coach darf den FC Bayern komplett übernehmen
Sportvorstand Matthias Sammer hat viel zu moderieren gehabt, er begreift es ja als seine Aufgabe, das "System FC Bayern" zu sichern. Sammer achtet etwa darauf, dass verletzte Profis nur den Vorgaben des klubeigenen Medizinstabs folgen (Müller-Wohlfahrt, Fitnesstrainer) und erst dann ins Pep-System (mit Fitnesscoach Lorenzo Buenaventura) überwechseln, wenn das Bayern-System sie offiziell überstellt.
Die Bayern haben bei Louis van Gaal schon einmal erlebt, dass ein Coach den Klub übernehmen wollte. Sie wollen das nicht noch mal erleben. Andererseits finden sie ihren Pep halt so faszinierend, dass sie ihm gerne Wünsche erfüllen.
So ein Spagat kann weh tun, aber inzwischen soll sich die Lage etwas entspannt haben - vielleicht auch, weil Kilian Müller-Wohlfahrt, Sohn des Medizinmanns, neuerdings als Arzt bei jeder Trainingseinheit anwesend ist. Und weil sein Vater beim DFB kürzer tritt, Mull senior ist nicht mehr bei jeder Auswärtsreise der Nationalelf dabei. Er ist jetzt häufiger in München.
Beim FC Bayern versuchen sie, die Debatte klein zu halten; eine Gesprächsanfrage an Thiago bleibt unbeantwortet, ein Interview mit Müller-Wohlfahrt wird unter Verweis auf die ärztliche Schweigepflicht abgelehnt. Cugat immerhin wurde zuletzt mit Thiago in Müller-Wohlfahrts Praxis gesehen. Es gebe, sagt ein Sprecher des Vereins, "zurzeit keine Unstimmigkeiten". Jetzt muss halt nur Thiago wieder in Tritt kommen.