Champions-League-Endspiel:Am Rande der Massenpanik

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238 Verletzte, 105 Festnahmen: Rund um das Champions-League-Finale herrschen chaotische Zustände, der Anpfiff muss verschoben werden. Die Polizei setzt Tränengas und Pfefferspray ein - Liverpool fordert eine Untersuchung.

Von Javier Cáceres, Paris

Wer am Samstag nicht zeitig am Stade de France war - und zeitig hieß: drei Stunden plus x -, der kam in eine überaus unbequeme Lage. Bestenfalls. Rund ums Stadion, in dem 1998 das Weltmeisterschaftsfinale und am Samstag das Champions-League-Endspiel zwischen Real Madrid und Liverpool stattfand (1:0), brach Chaos aus. Und es grenzte an ein kleines Wunder, dass sich die Verletztenzahlen in Grenzen hielten.

Ein diabolischer Mix aus nadelöhrartigen Zugängen, überforderten Sicherheitskräften, idiotischer Organisation, offenkundig überhart agierender Polizei sowie Fans mit und ohne Ticket schürte eine Lage, die sich scharf am Rande der Panik bewegte. Und das fast auf den Tag genau 37 Jahre nach der Katastrophe im Heysel-Stadion in Brüssel, bei der beim Europapokal-Endspiel zwischen Liverpool und Juventus 39 Menschen zu Tode kamen, hauptsächlich Italiener, die von englischen Hooligans attackiert worden waren. Liverpool-Legende Kenny Dalglish legte am Samstag zu Ehren der Toten noch vor dem Spiel ein Blumengebinde nieder.

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Die Probleme begannen schon vor der Anreise, denn für den Samstag war ein Bummelstreik der Regionalzüge ausgerufen worden. Es sollten nur zwei von drei Zügen fahren. Wer mit der "RER D" zum Spielort fuhr, wurde durch eine enge Unterführung zum Stadion geleitet, an deren Ende sich die Menschen ballten. Der Grund: ein erster Kontrollpunkt, wo Menschen ohne gültiges Ticket abgewiesen wurden.

Und von denen gab es nicht wenige. Aus Liverpool hatten sich Zehntausende auf den Weg nach Paris gemacht, obwohl sie keine Eintrittskarte hatten; auch gab es offenkundig Fans, die auf dem Schwarzmarkt an Fälscher geraten waren; hinzu kamen zahlreiche männliche Jugendliche aus dem Pariser Prekariat. Anders als etwa bei der Europameisterschaft 2016 oder dem Europa-League-Finale zehn Tage zuvor im spanischen Sevilla war rund ums Stadion kein großer Sicherheitsring gezogen worden, den nur Menschen mit Zugangsberechtigung betreten konnten.

Gut zwei Stunden vor dem offiziellen Spielbeginn setzte die Polizei Pfefferspray ein: als es zu Versuchen kam, den ersten Kontrollposten zu überwinden. Auch an anderen Zugängen gab es ähnliche Probleme. Teilweise sollen die Menschen stundenlang dicht gedrängt und zunehmend nervös in einem Pulk gewartet haben. Auch vor den Stadiontoren ballten sich dann stellenweise die Massen. Spanische Fans berichteten, es sei zu vielen Handydiebstählen gekommen; offenbar um an digital abgespeicherte Tickets zu gelangen.

Ein Polizist am Stade de France. Die Beamten setzten auch Pfefferspray ein. (Foto: Adam Davy/PA Images/Imago)

Vor den Toren eskalierte dann die Lage, als über soziale Netzwerke und herkömmliche Medien die Nachricht verbreitet wurde, dass Zugänge kurzfristig geschlossen wurden - offenbar vor allem vor dem Sektor, in dem die Liverpool-Fans standen. Auf Videobildern, die bei Twitter verbreitet wurden, war zu sehen, wie eine Reihe von Personen kurzerhand über die hohen Außenzäune kletterten und sich auf diese Weise Zugang zum Stadion verschafften, und vor den überrumpelten Stewards Reißaus Richtung Ränge nahmen.

Im Stadion wurde das Publikum dann mit Botschaften vertröstet, die für jeden Besucher, der nicht via VIP-Shuttle ans Stadion gefahren worden war, absurd wirken mussten. Das Spiel verzögere sich wegen der späten Ankunft der Fans, hieß es zunächst auf der Videoleinwand. Nach Ende der Partie erklärte die Uefa, die Drehkreuze seien blockiert gewesen, weil Tausende Anhänger mit gefälschten Tickets abgewiesen worden seien. Der Anpfiff sei um letztlich 37 Minuten verschoben worden, um möglichst vielen Fans mit Tickets den Einlass zu ermöglichen.

Als das Spiel begann, war das Stadion noch nicht gefüllt, auch lange nach Anpfiff kamen noch Zuschauer ins Stadion. Einige Plätze blieben leer. Dem Augenschein nach waren auch Besucher ohne gültige Tickets ins Stadioninnere gelangt. Es kam zu Diskussionen um falsch besetzte Plätze, die Sicherheitspuffer waren teilweise mit Menschen besetzt.

Fans klettern über den Zaun, es spielten sich chaotische Szenen ab. (Foto: Christophe Ena/AP)

"Wir sind sehr enttäuscht von den Problemen beim Stadion-Einlass und dem Zusammenbruch des Sicherheitsbereichs, dem Liverpool-Fans heute Abend im Stade de France ausgesetzt waren", teilte der FC Liverpool noch während der Partie mit, und forderte "eine offizielle Untersuchung zu den Gründen dieser inakzeptablen Probleme." Liverpool-Coach Jürgen Klopp berichtete, dass er wisse, "dass einige aus den Familien Probleme hatten. Wir müssen weitere Untersuchungen abwarten, um zu wissen, was passiert ist. Einige Dinge waren nicht gut und nicht schön. Mehr weiß ich noch nicht."

Unter den Angehörigen der Liverpool-Spieler, die Opfer der unübersichtlichen Situation wurden, war auch Marvin Matip, Bruder von Liverpools Verteidiger Joel Matip. "Die Organisation um und im Stadion ist nicht nur eines Champions-League-Finales unwürdig", sagte der frühere Fußballprofi Marvin Matip bei Sky. "Tränengas in Bereichen mit Kindern und unbeteiligten Fans einzusetzen, ist gemeingefährlich." Auch die Uefa erklärte in ihrer Mitteilung, die französische Polizei habe Tränengas eingesetzt.

Fans zeigen ihre Tickets zum Beweis, dass sie nicht ins Stadion gelassen werden. (Foto: Adam Davy/PA Images/Imago)

Spaniens Sportminister José Manuel Franco berichtete im Rundfunksender Cadena SER, er habe mehr als eine Stunde auf den Zugang zum Stadion warten müssen. Er selbst habe "viele Menschen" gesehen, die aus Autos heraus- und dann über Zäune sprangen, um ins Stadion zu gelangen. Franco stellte ebenfalls die Organisation infrage. Augenzeugen berichteten, sie hätten sich teilweise bis zu zwei Stunden gegen Gitter gedrängt gesehen - auch von aggressiven französischen Polizisten.

Die Polizei teilte um 1.20 Uhr mit, es habe rund um das Finale 68 Festnahmen und 238 Verletzte gegeben, tags darauf war die Zahl der Festnahmen dann auf 105 gestiegen. Bei den Verletzungen habe es sich um "leichte" Blessuren gehandelt, die noch vor Ort ambulant versorgt werden konnten, hieß es. Die Uefa kündigte eine Aufarbeitung der Geschehnisse an.

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