European Championships:Gold um eine Winzigkeit

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Gold im Teamsprint, im 500-Meter-Zeitfahren und nun auch im Sprint: Emma Hinze begreift ihren nächsten Sieg erst, als das Publikum jubelt. (Foto: Christian Einecke/Cepx/Imago)

"Ich habe mich übergeben, ich hab geweint, ich hab gedacht, ich schaff das nicht": Emma Hinze sichert sich im dritten EM-Rennen ihren dritten Sieg mit hauchdünnem Vorsprung nach einem turbulenten Tag, geprägt von einem schweren Sturz.

Von Andreas Liebmann, München

Ihr Kopf drehte sich nach links, und alles war wie immer: Emma Hinze fixierte ihre Gegnerin, regungslos verharrend, sie blickt in solchen Momenten fast, als wolle sie die andere gleich auffressen. Die Französin Mathilde Gros kennt das, sie starrte unbeirrt zurück, der Blickkontakt gehört ohenhin dazu beim Start. Wie schlecht es Hinze ging, dürfte ihre Konkurrentin kaum erkannt haben, weder vor noch nach dem Start, und wer weiß: Vielleicht ging es Mathilde Gros ja auch nicht viel besser.

Nach dem Rennen am Montagabend jedenfalls war erneut alles wie immer. Das Münchner Publikum johlte, Hinze jubelte, bald darauf erklang die deutsche Hymne für Hinzes drittes Gold in ihrem dritten Wettkampf. Und als sie dann in Interviews Rede und Antwort stand, da stand sie nicht - sondern saß entkräftet auf einem Stuhl, den man ihr in die Mixed Zone gestellt hatte, wie schon am Samstag nach dem Sieg im 500-Meter-Einzelzeitfahren. "Heute bin ich einmal durch alle Emotionen gegangen", erzählte die 24-jährige Cottbuserin offen, "ich habe mich übergeben, ich hab geweint, ich hab gedacht, ich schaff das nicht."

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Es war pure Erschöpfung, wie Sprint-Bundestrainer Jan van Eijden später erklärte. "Du gehst so ins Laktat bei dieser Belastung, dass dein Körper irgendwann nicht mehr so will, wie du willst, du übergibst dich, kannst nichts mehr essen, bist einfach platt." Das ganze Team habe sie dann aufgebaut, ihr Energie gegeben und Tipps, erzählte Hinze, und der Bundestrainer habe ihr genau erklärt, was sie im Lauf davor, dem zweiten der drei Sprints im Finale der Königsdisziplin, taktisch falsch gemacht habe. Es hat dann wohl alles irgendwie geholfen, auch wenn Hinze an diesem Tag stark davon ausgegangen war, dass es sicher nichts werden würde mit ihrem dritten Sieg.

Vor dem Sprint stürzten zwei Fahrerinnen schwer, sie wurden in Münchner Kliniken gebracht

Bis kurz vor der Ziellinie dachten das wohl die meisten im Münchner Velodrom, denn Mathilde Gros hatte aus der Führungsposition heraus jeden Überholversuch auf diesen drei Runden abgewehrt, bis, ja: bis wenige Zentimeter vor der Ziellinie, als sich Hinzes Vorderreifen doch noch um eine Winzigkeit vorbeischob. Das zeigte letztlich die Zeitlupe vom Zieleinlauf, die auch auf den Hallenmonitoren zu sehen war. Auch sie selbst habe ihren Sieg erst realisiert, als das Publikum zu jubeln begann, berichtete Hinze.

Ganz knappe Entscheidung: Emma Hinze (links) gewinnt mit einem Mini-Vorsprung Gold gegen die Französin Mathilde Gros. (Foto: Sirotti Stefano/Imago)

Wahrscheinlich hätte es tatsächlich nicht geklappt mit diesem hauchdünnen dritten Erfolg, wäre nicht in jenem Omnium-Rennen, das zwischen ihrem zweiten und dritten Sprint gegen Gros angesetzt war, erneut ein heftiger Sturz passiert. Ähnlich wie die italienische Weltmeisterin Letizia Paternoster, die sich am Samstag einen Schlüsselbeinbruch und eine Gehirnerschütterung zugezogen hatte, stürzten ausgangs derselben steilen Kurve erneut mehrere Fahrerinnen.

Die Griechin Argiro Milaki und die Ukrainerin Ganna Solovej lagen blutend auf der Bahn, wurden etwa eine halbe Stunde lang hinter Sichtschutz behandelt und dann in Münchner Kliniken gebracht. Schlimm seien solche Unfälle, sagte Hinze später. Wie es den beiden ging, war noch nicht bekannt. Als Fahrerin müsse man das aber erst mal an sich abprallen lassen. Die lange Verzögerung bis zu ihrem finalen Einsatz jedenfalls half ihr sicher dabei, noch einmal etwas zu Kräften zu kommen.

Auf das Keirin verzichtet Hinze, bald findet die WM statt: "Da will ich gut sein."

Es war bereits der fünfte Wettkampftag in der Münchner Messehalle. Am zweiten hatte sie im Teamsprint Gold gewonnen mit Pauline Grabosch und Lea Sophie Friedrich. Dann in einer Rekordzeit auch das 500-Meter-Zeitfahren, von dem sie sich nichts erwartet hatte, das sie nach eigener Aussage eher "aus Spaß" mitgefahren war - den sie dann ja auch hatte. Und am Dienstag, dem sechsten und letzten Tag, sollte auch noch das Keirin stattfinden, der Kampfsprint, eine ihrer Stärken. Auf diese Disziplin hat sie nun verzichtet. "Ich bin auch heute über meine Grenzen gegangen", erklärte sie. Im Oktober findet die WM statt, "da will ich gut sein". Fünf Weltmeistertitel hat sie schon, die Niedersächsin, die vor Jahren an den Stützpunkt Cottbus zog.

Dort trainiert seit dem Wechsel von Pauline Grabosch aus Chemnitz inzwischen das gesamte Sprintteam unter Aleksander Harisanow. Seit sechs Monaten ist van Eijden der Bundestrainer für den Sprintbereich, zuvor hatte er 15 Jahre lang für Großbritannien gearbeitet. Für das starke Abschneiden des deutschen Teams in München lobte er allerdings die Heimtrainer, in Chemnitz, Cottbus, Kaiserslautern - und natürlich Hinze als Aushängeschild des Sprintbereichs. "Ihre Willensstärke und die Art, wie sie sich an der Startlinie fokussieren kann, sind beeindruckend", sagte der 46-Jährige. Ihr Blick sei keine Show nach außen, sondern es passiere da wirklich etwas in ihr.

Das ganze Team hatte sich gezielt in Augsburg vorbereitet, auch dort ist die Bahn wie in München nur 200 statt der üblichen 250 Meter lang. Das Profil ist dennoch ein anderes. "Hier gibt es fast keine Geraden, nur Kurven, in denen du außen den längeren Weg hast", erklärte er. Überholversuche müsse man entsprechend gut timen, umso höher sei Hinzes Finalerfolg einzuschätzen. "Als wir hergekommen sind und gesehen haben, wie viel weiter die Kurven hier sind, haben wir uns schon erschrocken." Die Bahn in der Messehalle ist binnen zwei Wochen errichtet worden und wird nach dem Ende der Wettkämpfe auch wieder abgebaut.

Stürze gehören dazu, sagt der Bundestrainer. "Du hoffst, dass es nicht passiert, und wenn es passiert, dass es glimpflich abgeht."

Ein paar üble Stürze gab es. Zu deutlich mehr schweren Unfällen, wie befürchtet worden war, führte die ungewöhnlich kurze Bahn bis zum Abschlusstag nicht. Der ganz normale Wahnsinn, wenn man so will: "Wenn du auf die Bahn gehst, musst du akzeptieren, dass du hinfallen kannst", sagte van Eijden. "Das gehört zum Radsport leider dazu. Du hoffst, dass es nicht passiert, und wenn es passiert, dass es glimpflich abgeht."

Als sich die so knapp geschlagene Französin Mathilde Gros und Emma Hinze in der Interviewzone wieder trafen, starrten sie einander übrigens nicht mehr an, sondern umarmten sich herzlich. "Auf der Bahn sind wir vielleicht die größten Gegner, gucken uns böse an, aber sie ist supersympathisch", sagte Hinze. Beide wollten einander Respekt bekunden. "Solche Sportler finde ich supertoll."

Supertoll findet sie auch das Konzept der European Championships, denn das hat ihrer Randsportart in den Tagen in der Münchner Messe eine ungewohnte Medienpräsenz verschafft - die Hinze dann auch vorzüglich genutzt hat zur Werbung fürs Bahnradfahren und für sich selbst. Wenigstens im Fernsehen habe sie auch bei anderen Sportarten reingeschaut, erzählte sie, beim Klettern etwa. Ob sie nun auch noch live bei anderen Sportarten zuschauen wolle? Emma Hinze musste nur kurz überlegen, dann machte sie auch das wie immer, sie sagte einfach, was ihr durch den Kopf ging: "Nein. Ich will in mein Bett, nach Hause."

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