Europameisterin Hussong:Das Olympiastadion raunt

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Christin Hussong kurz vor dem Abwurf. (Foto: Alexander Hassenstein/Getty Images)
  • Christin Hussong gewinnt mit einem Rekordwurf auf 67,90 Meter Gold im Speerwurf.
  • Tags zuvor gewann auch Thomas Röhler den Wettbewerb.
  • Das deutsche Team arbeitet in dieser Disziplin eng zusammen - auch Siebenkämpferin Carolin Schäfer profitiert.

Von Saskia Aleythe, Berlin

Speere sind empfindliche Geräte. Andreas Hofmann ist schon mal einer in der Luft zerbrochen, Thomas Röhler berichtete nach seinem EM-Gold davon, wie er manchmal in Trainingswürfen einen Speer exakt so losschickt wie den letzten zuvor, dann bohren sie sich ineinander, "dann kannst du darauf Flöte spielen". Und weil es eine Kunst ist, das Gerät so in die Luft zu bekommen, dass es in Rekordweiten fliegt, kann der Umgang zwischen Athlet und Speer schon mal recht besonders sein. Manchmal, so berichtete es Christin Hussong nun in Berlin, spreche sie zu ihren Speeren. Bei solchen, mit denen sie schon große Weiten erzielt hat, zu denen sagt sie dann vor einem wichtigen Wurf: "Komm schon, du kannst es doch!"

Darüber muss sie selber lachen, "ich bin leider sehr abergläubisch", aber gut - wenn's hilft? Am Freitagabend im Berliner Olympiastadion ist auf jeden Fall ein Speer dazugekommen, mit dem sie in Zukunft vermutlich noch inniger verbunden sein wird. Es war gleich der erste Versuch im Finale der Speerwerferinnen, den die 24-Jährige nutzte, um das Publikum raunen zu lassen. Nach hohem Bogen bohrte sich der Stab bei 67,90 Meter in die Wiese. "Es war so ein Traum, im ersten gleich so weit zu werfen", sagte sie später, "die anderen waren danach schon etwas geschockt." So geschockt, dass keine mehr kontern konnte und Hussong schließlich mit sechs Metern Vorsprung auf die Zweitplatzierte Tschechin Nikola Ogrodnikova (61,85) Gold gewann. Auf der Tribüne jubelte ihr Vater, der gleichzeitig ihr Trainer ist, immer schon. "Diese Medaille ist auch für ihn"; sagte Hussong.

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Gold, Silber, Bronze, Bronze: Christin Hussong wird Speerwurf-Europameisterin und auch im Dreisprung, im Siebenkampf und im Hochsprung gewinnen deutsche Athletinnen Medaillen. Nur ein Autounfall überschattet den Abend.

Schon am Donnerstag hatte sie den Abend im Olympiastadion verbracht, als Thomas Röhler Gold vor Andreas Hofmann gewann, unter enormer Begeisterung der fast 40 000 Zuschauer. "Da hat man schon Lust bekommen, auch auf dem Treppchen zu stehen", sagte Hussong. Und da waren die deutschen Speerwerferinnen den Männern vor ein paar Jahren ja noch voraus. Christina Obergföll, die ab 2005 sieben Mal auf diversen Treppchen stand, unter anderem zwei Mal bei Olympia mit Silber, gekrönt beim WM-Titel 2013. Linda Stahl mit dem EM-Titel 2010 und vier weiteren bedeutenden Medaillen. Katharina Molitor als Weltmeisterin 2015. Obergföll und Stahl haben ihre Karrieren schon beendet, Molitor verpasste in Berlin das Finale. Also nun: Ist Hussong die Zukunft?

Ihre 67,90 Meter sind auf jeden Fall eine Weite, die vor ihr von den deutschen Frauen nur Obergföll und Steffi Nerius übertroffen haben. Nerius war 2009 in Berlin Weltmeisterin geworden, ihr Speer flog damals auf 67,30 Meter. Hussong sah den Erfolg als 15-Jährige im Fernsehen. "Es war schon mein Ziel, das mal zu erreichen, was Steffi erreicht hat", sagte Hussong in der ARD. In den letzten Jahren gehörte sie auch schon zu den besten Speerwerferinnen im Land, fuhr zu Olympia in Rio und zur WM in London - in Rio wurde sie Zwölfte und flog in London in der Qualifikation raus. "Ich war nie verletzt, es hat einfach nicht geklappt", sagte sie, "aber da muss man durch, auch wenn es schwer fällt." Umso bemerkenswerter war nun ihr Auftritt in Berlin.

Schon in der Qualifikation hatte sie persönliche Bestweite mit 67,29 Meter geworfen, schon da im ersten Versuch. "Der Wurf war super, das zeigt mir, dass ich topfit bin", hatte sie gesagt und mit der Gewissheit ist sie dann ins Finale gegangen. Wo sie sich dann wieder selber übertraf und fünf Versuche beobachten musste, was die Konkurrenz so treibt. "Ich habe mich die ganze Zeit gefragt: Was ist, wenn die anderen noch kommen? Und ich kontern muss?", sagte sie, doch dazu kam es dann nicht. "Genieß es!", habe ihr ihr Trainer und Vater vor dem Finale mit auf den Weg gegeben. Mit dem Sport in Kontakt kam er erst durch seine Tochter, "er hat das nicht studiert, er hat mit mir angefangen mit Leichtathletik, er hat sich mit mir da hochgearbeitet". Dass sie am Ende auf der Anlaufbahn hockte, mit der Hand vorm Gesicht, war natürlich ein emotionaler Moment für jemanden, der seine erste Gold-Medaille bei einer EM der Großen gewinnt, 2015 hatte sie schon bei der U23-EM den Titel geholt. Aber Hussong sagte über den Titelgewinn nun auch: "So überrascht wie andere bin ich nicht, auch mein Trainer nicht." Sie weiß, was sie kann.

Es ist eine Medaille, die auch vom Austausch profitiert, die sie im Speerwurf mittlerweile praktizieren. In gemeinsamen Trainingslager mit den Männern etwa, "das ist alles eine Gemeinschaftsaktion", sagt Hussong. Auch Siebenkämpferin Carolin Schäfer holte sich Tipps bei Thomas Röhler ab, erzielte im Speerwurf die drittbeste Weite. Für sie klappte es mit Bronze in Berlin, es war ja ohnehin ein medaillenreicher Abend: Dreispringerin Kristin Gierisch wurde Zweite, Marie-Laurence Jungfleisch Dritte im Hochsprung. Sie alle bekamen nachts noch einen gemeinsamen Auftritt, auf der Bühne des EM-Clubs, wo die deutschen Medaillengewinner gefeiert werden. Da konnte Hussong auch nochmal ihren ersten Versuch sehen, auf großer Videoleinwand. Und wie sie schon beim Flug des empfindlichen Geräts spitze Schreie ins Stadion entlässt, mit dem Gefühl für weite Würfe.

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