Ukraine bei der EM:Den Weltuntergang verhindert

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Mit dem Trainer und einigen der aktuellen Spieler der Ukraine stand Anatolij Timoschtschuk (hier 2006) noch gemeinsam auf dem Platz. (Foto: Oliver Hardt/imago)

Vor dem Viertelfinale gegen England erinnert sich Anatolij Timoschtschuk an den historischen Erfolg bei der WM 2006 - und erklärt, warum es zwischen Mannschaft und Trainer bei der Ukraine so gut passt.

Von Felix Haselsteiner

Es war Oleg Blochin, der das, was sich in der vergangenen Woche in der Ukraine abgespielt hatte, am besten zusammenfasste. "Weltuntergangsstimmung" habe nach der Niederlage im dritten Gruppenspiel gegen Österreich im Land geherrscht, sagte Blochin. Und jetzt, wo die Ukraine im Viertelfinale gegen England steht, zum ersten Mal überhaupt bei einer EM? Wurde sogar Blochin, als Spieler und kauziger Trainer eine Legende seines Landes, etwas euphorisch: "Für die Ukraine ist dieses Viertelfinale wie der EM-Titel."

Blochin war es, der einst den größten Erfolg der ukrainischen Fußballgeschichte als Trainer bewerkstelligte. In seiner ersten Amtszeit als Nationalcoach zog er mit dem 40-Millionen-Einwohner-Land bei der Weltmeisterschaft 2006 ins Viertelfinale ein, es war ein historischer Erfolg. Im Hamburger Volksparkstadion scheiterte die Ukraine damals an Italien, ein klares 0:3 gegen den späteren Weltmeister war das bedröppelte Ende einer ukrainischen Mannschaft, die damals vor allem von zwei Spielern geprägt wurde: Dem Stürmer und Weltfußballer von 2004, Andrej Schewtschenko, - und Mittelfeldspieler Anatolij Timoschtschuk, damals wie heute bei Zenit Sankt Petersburg tätig.

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"Ich bin gerade in Österreich im Trainingslager", sagt Timoschtschuk, mittlerweile Co-Trainer bei Zenit, als man ihn am Telefon erreicht. Das Deutsch aus der Zeit beim FC Bayern reicht noch locker aus für ein Gespräch, "Timo" berichtet, dass er weiterhin Kontakt zu einigen seiner ehemaligen Mitspieler hat - Miroslav Klose und Manuel Neuer etwa. Das Aus der Deutschen habe ihn überrascht, sagt Timoschtschuk, nun müsse sich seine Ukraine eben mit England herumschlagen. Dass seine Nationalmannschaft es ins Viertelfinale geschafft hat, überrascht den 42-Jährigen allerdings nicht: "Ich hatte erwartet, dass die Ukraine so weit kommt. Die Mannschaft ist gut organisiert, hat sehr viel Talent in der Offensive."

Der von Anfang an enge Draht des Trainers zu den Spielern sei entscheidend gewesen, glaubt Timoschtschuk

Mit manchem Talent hat Timoschtschuk noch zusammengespielt. Außenstürmer Andrej Jarmolenko etwa begann seine Karriere im Nationalteam 2009, er erlebte auch seinen heutigen Trainer Schewtschenko als Mitspieler. Das gute Verhältnis in der Mannschaft sei entscheidend für den Erfolg der Ukraine, sagt Timoschtschuk. Es habe für den legendären Stürmer Schewtschenko, der den Nationaltrainerposten 2016 nach der EM übernahm, vieles erleichtert: "Es war sehr wichtig, dass er von Anfang an diesen engen Draht zu den Spielern hatte, das war der Schlüssel zum Erfolg für ihn." Jarmolenkos Rolle als engster Verbündeter des Trainers auf dem Feld sei entscheidend: "Die beiden sprechen viel während der Spiele."

Im Nachhinein lässt sich vieles am ukrainischen Erfolg leicht erklären, doch der Druck nach der durchwachsenen Vorrunde belastete vor allem Oleksandr Sintschenko. Der 24-Jährige von Manchester City wurde in der Heimat kritisiert, weil er nicht auf seiner angestammten Position als Linksverteidiger spielte, sondern im Mittelfeld. Als Sintschenko im Achtelfinale gegen Schweden das 1:0 erzielte und später die Flanke zum 2:1 in der Nachspielzeit der Verlängerung gab, sah man ihm die Genugtuung geradezu an: Sintschenkos Jubel mit Finger auf den Lippen konnte man als Zeichen an das ganze Land verstehen.

Nach dem kraftraubenden Kampf gegen Schweden wollen sie nun England überraschen

Timoschtschuk kennt die Situation der ukrainischen Hoffnung nur zu gut: "Man muss verstehen, dass es sehr schlimm war für Sintschenko, das Champions-League-Finale zu verlieren." Timoschtschuk hatte vor seiner Heim-Europameisterschaft 2012 mit dem FC Bayern gegen den FC Chelsea verloren: "Es ist nicht einfach, danach weiterzumachen, dazu braucht man viel Erfahrung. Er wurde viel kritisiert, aber der Wechsel auf die linke Seite hat ihm sehr gutgetan." Timoschtschuk erinnert die Debatte um die Positionierung an einen seiner ehemaligen Mitspieler in München: "Es geht ihm wie David Alaba", sagt Timoschtschuk, auch der habe bei Österreich im Mittelfeld gespielt und sei dafür nicht belohnt worden. Erst das Vertrauen in das Können auf der angestammten Position habe ihm geholfen.

Im Viertelfinale gegen die Ukraine dürfte Schewtschenko nun erneut auf Sintschenko als Linksverteidiger in einer Fünferkette setzen. "Wir müssen die Spieler physisch und mental wieder aufbauen. In diesem Kampf gegen Schweden haben sie sehr viel Energie gelassen", sagte Schewtschenko vor dem Spiel. Man wolle nun versuchen, "England zu überraschen." Vom "emotionalen Schub", den die Mannschaft bekommen habe, berichtete Jarmolenko vor dem Spiel, von Blochins Weltuntergangsstimmung aus der Vorrunde ist nichts mehr zu spüren.

Auch Timoschtschuk erkennt das EM-Viertelfinale bereits als großen Erfolg an - den Vergleich zu 2006 scheut er allerdings ein wenig. "Ein Viertelfinale bei einer Weltmeisterschaft zu erreichen, ist noch einmal schwieriger", sagt Timoschtschuk: "Man spielt gegen die ganze Welt!" Nun sei das Spiel gegen England entscheidend: "Wenn die Mannschaft es ins Halbfinale schafft, dann haben sie denselben Erfolg erreicht." Insgeheim hofft er allerdings auf den ganz großen Wurf: "Wir haben damals gegen den späteren Weltmeister Italien verloren. Wer weiß, vielleicht gibt es dieses Mal eine Chance für eine Revanche!" Italien wäre für die Ukraine ein möglicher Gegner - im Finale.

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