Englands Torhüter Jordan Pickford:Der Vorlaute entdeckt die stillen Paraden

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Begabter Flieger: Jordan Pickford pariert einen Ball gegen Tschechien. (Foto: imago images/Shutterstock)

Aus dem einst extrovertierten Jordan Pickford ist ein beachtlich gelassener Schlussmann geworden. Die Zeit, in der Englands Nationaltorhüter beständig patzten, könnte tatsächlich vorbei sein.

Von Sven Haist, London

In der allgemeinen Wahrnehmung des bislang besten Torwarts bei dieser Europameisterschaft erhält Jordan Pickford kaum eine Erwähnung. Die Nichtbeachtung des englischen Nationaltorhüters könnte natürlich daran liegen, dass dem Mutterland des Fußballs einfach nicht mehr zugetraut wird, über einen seriösen Schlussmann zu verfügen, nachdem die meisten Vorgänger mehr für Fehlgriffe in Erinnerung blieben denn als Glücksgriffe. Ebenso dürfte der Aspekt von Relevanz sein, dass Pickford aus Sicht der Öffentlichkeit in diesem Turnier noch keinen entscheidenden Strafstoß eines hochrangigen Angreifers hielt wie der Schweizer Yann Sommer im Elfmeterschießen des Achtelfinales gegen den Franzosen Kylian Mbappé - oder gleich einen neuen Weltrekord aufstellte wie der Italiener Gianluigi Donnarumma, der zusammen mit seinen Stellvertretern zuletzt 1168 Minuten ohne Gegentreffer geblieben war.

Als Reklame in eigener Sache kann Pickford, 27, zumindest auf mehrere sehenswerte Reflexe in den vergangenen Partien verweisen, wobei diese Spiele mindestens noch einmal angesehen werden müssten, um die Exponiertheit der Rettungstaten zu erkennen. Denn viel Aufsehen hat Pickford um sein Können bei dieser EM nicht gemacht. Nach seiner einhändigen Parade gegen den Volleyschuss des Rechtsaußen Stephen O'Donnell im Inselduell mit Schottland bediente er sich lässig an der Trinkflasche, um die Tatsache herunterzuspielen, dass er gerade eine der besten Reaktionen des Turniers gezeigt hatte. Ähnlich sah es aus nach seinen siegbringenden Paraden gegen die Deutschen Timo Werner und Kai Havertz. Je beachtlicher seine Leistungen erschienen, umso ruhiger nahm sie Pickford zur Kenntnis. Vor drei Jahren noch, bei der WM 2018, hätte er bestimmt jeden abgewehrten Ball hinterher von sich aus angepriesen. Schließlich war er sich damals auch nicht zu schade dafür, sich im Überschwang auf eine Stufe mit den im Turnier vermutlich besten Torhütern Thibaut Courtois (Belgien) und Hugo Lloris (Frankreich) zu stellen.

Große Tat: Im Achtelfinale gelingt Jordan Pickford gegen Timo Werner eine richtungsweisende Parade. (Foto: Mike Egerton/PA Images/imago)

In zehn seiner zurückliegenden 13 Länderspiele blieb er unbezwungen

Seine neue Gelassenheit verleiht ihm nun eine Ausstrahlung der Verlässlichkeit, die ihn zu einem ernsthaften Anwärter auf den goldenen Handschuh des besten EM-Torwarts macht. Als erste englische Nummer eins seit dem großen Weltmeistertorwart Gordon Banks 1966 hat es Pickford, 35 Länderspiele, geschafft, die ersten vier Partien einer Welt- oder Europameisterschaft ohne Gegentor zu absolvieren. Inzwischen ist er im Trikot der Three Lions seit mehr als zehn Stunden ungeschlagen, zuletzt bezwang ihn der Belgier Dries Mertens in einem Nations-League-Spiel im November 2020 - wobei er im März bei den Qualifikationsspielen zur WM 2022 in Katar wegen einer Bauchmuskelverletzung fehlte. In zehn seiner zurückliegenden 13 Länderspiele blieb er unbezwungen. Im Viertelfinalduell mit der Ukraine in Rom am Samstagabend, das der auf der Insel hochgelobte deutsche Schiedsrichter Felix Brych leiten wird, kann er seine Bilanzen weiter ausbauen, ohnehin ist England die einzige in der EM verbliebene gegentorfreie Nation.

Dabei galt die Offensive stets als große Stärke der Mannschaft. "Pick of the bunch", der Auserwählte des Teams, wortspielte das einigermaßen gemäßigte Boulevardblatt Daily Mirror am Freitag - und pickte ihn auf einer Doppelseite heraus. Auf dem Hauptbild ist er mit aufgerissenem Mund zu sehen, als er auf der Ehrenrunde nach dem Erfolg über Deutschland Freude und Anspannung herausschrie.

Auf internationalem Niveau repräsentiert ein Torwart meist das emotionale Fundament seines Teams. Die Vorderleute wünschen sich einen souveränen und gewissenhaften Rückhalt, der Sicherheit und Vertrauen vermittelt. Allerdings hat sich der in Washington bei Newcastle geborene Pickford seinen Weg in die Elite vorwiegend über Leidenschaft und Extrovertiertheit gebahnt, Attribute, die für einen Geordie, wie man die Leute aus der Gegend nennt, fast typisch sind. Aus der Jugendabteilung des AFC Sunderland stammend, musste sich Pickford, nur 1,85 Meter groß, auf unzähligen Leihstationen durch die Niederungen des englischen Fußballs kämpfen, die ihm alles abverlangt, die ihn geprägt und abgehärtet haben. Aus dieser Zeit dürfte sein anfangs vorlautes Auftreten resultiert haben, das fast zur Grundbedingung gehört, um sich in diesen zermürbenden Ligen durchzusetzen.

Nach seiner ersten Saison mit Sunderland in der Premier League, die auf dem letzten Platz endete, und guten Leistungen für die englische U21, verpflichtete ihn der FC Everton im Sommer 2017 für die britische Rekordtorhüterablöse von circa 30 Millionen Euro. Der Kaufpreis lag weit über Marktwert, was weniger auf seiner Perspektive basiert haben dürfte als auf dem Fakt, dass kaum ein englischer Torwart seinerzeit in der höchsten Liga zum Einsatz kam.

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Richtig Fahrt nahm seine Karriere erst auf, als ihn sein früherer U21-Coach und jetziger A-Nationaltrainer Gareth Southgate quasi über Nacht vor der WM 2018 ins Tor der Engländer beförderte. Neben den Aussetzern seines Konkurrenten Joe Hart hatte Pickford die Nominierung vor allem seinen Fußfertigkeiten am Ball zu verdanken. Mit zwei gehaltenen Elfmetern half er dann maßgeblich, dass sein Team das Achtelfinale gegen Kolumbien im Shootout überstand. Trotzdem überwog das Gefühl, dass der agile und lebhafte Pickford zur Hyperaktivität neigt. Seine Ungeduld verleitete ihn auf Klubebene zu zahlreichen Fehleinschätzungen - am schwerwiegendsten sein kamikazehafter Sprung ins Knie des Liverpooler Abwehrchefs Virgil van Dijk im Herbst 2020, der diesem einen Kreuzbandriss einbrachte und ihm selbst Morddrohungen - sowie eine Diskussion über seinen Stammplatz.

In dieser Zeit half Pickford die Kooperation mit einem Sportpsychologen, dessen Expertise er zu Beginn der Saison gesucht hatte. Vor der EM erzählte er, dass ihn die Zusammenarbeit zu "einem besonneneren Torwart" gemacht habe. Auch an seiner Technik feilte Pickford: Der markanteste Fortschritt ist bei seiner Handhaltung zu sehen. In der Grundposition auf der Torlinie habe sich bei ihm die falsche Angewohnheit eingeschlichen, die Hände nicht symmetrisch am Körper, sondern auf unterschiedlichen Höhen zu halten, klagte einst Englands Torwarttrainer Martyn Margetson.

Nach seinem Zu-null-Spiel gegen Deutschland, der vielleicht besten Partie seiner Karriere, bat Jordan Pickford hinterher um das Trikot seines Gegenübers Manuel Neuer. Der deutsche Welttorhüter überreichte ihm trotz der Niederlage sein Shirt mit handsignierter Unterschrift - und Pickford trug es ähnlich stolz aus dem Stadion, als wäre es der goldene Handschuh für den besten EM-Torhüter.

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