Englische Anhänger:Sehnsucht ist auch eine Sucht

England Fans Fans of England prior to the Euro 2020 last 16 tie at Wembley Stadium, London PUBLICATIONxNOTxINxUKxCHN Cop

Sind sie schon unterwegs? Englands Fußballfans, hier vor dem Wembley-Stadion.

(Foto: Stuart Garneys/imago images/Focus Images)

Englands Fans wollen dabei sein beim möglicherweise historischen Erfolg ihres Teams. In Rom aber fürchtet man sich vor ihnen und der Delta-Variante. Die Uefa schaut dem grotesken Treiben zu.

Kommentar von Oliver Meiler

Rom sorgt sich vor den Engländern - so sehr, dass so manche Römer sich die Deutschen gewünscht hätten im samstäglichen Viertelfinale im Stadio Olimpico. Und das hat, weiß Gott, herzlich wenig mit fußballerischen Vorlieben zu tun, auch nicht mit länderspezifischen Präferenzen im Allgemeinen.

Man sorgt sich, dass einige hundert, vielleicht sogar einige tausend Fans der "Drei Löwen" aus England alle Reiseverbote und Quarantänepflichten ignorieren könnten und es schaffen, nach Rom zu kommen. Irgendwie, einfach durch. Beseelt von dieser unbedingten Sehnsucht, dabei zu sein bei dem wohl einigermaßen aussichtsreichen Versuch, 55 Jahre nach der letzten großen Trophäe, dem Weltmeistertitel 1966, wenigstens mal einen silbernen europäischen Pott nach Hause zu bringen, ins Mutterland des Fußballs. Die Wettbüros zählen die Engländer nun zu den Favoriten auf den Europameistertitel, das ist schon lange nicht mehr vorgekommen.

Sehnsucht in Ehren, sie ist aber eben auch eine Sucht. In diesem Fall, mitten in der noch reichlich unsicheren Spätphase der Pandemie, ist Sehnsucht sogar ziemlich unromantisch - und dumm.

In London fühlt man sich unfair behandelt - eine Revanche für den Brexit?

Großbritannien zählt wieder Zehntausende Neuinfektionen jeden Tag, am Donnerstag waren es 28 000. "Variante Delta" zerschlägt gerade die vorsichtig gewachsene Hoffnung, dass die Pandemie bald überstanden sein könnte. "Delta" wird bald überall in Europa dominant sein, sagen die Virologen. Das geht nun mal umso schneller, wenn die Engländer reisen und die Variante womöglich mit sich herumtragen. Scheint eine recht logische Folgerung zu sein. Umgekehrt: Wen es jetzt für den Spaß eines Fußballspiels nach London zieht, dem droht nicht nur eine Ansteckung - er könnte das mutierte Virus auch zurück nach Hause bringen. Von den 40 000 Schotten, die für das Gruppenspiel gegen England nach London gefahren waren, haben sich dort mindestens 2000 angesteckt. And still counting.

Europas Fußballverband Uefa aber hält daran fest, die Halbfinale und das Finale der EM in London auszutragen. Final-Four im heiligen Wembley, wenn möglich sogar mit 60 000 statt nur 42 000 Zuschauern. Eher Budapest als München und Rom, eher im noch etwas unvernünftigeren Rahmen als im vernünftigen. Es gab schon Anmahnungen aus der hohen Politik, man möge der epidemiologische Entwicklung Rechnung tragen und den Austragungsort der Endphase wechseln. Italiens Premier Mario Draghi war der Erste, der dazu riet. In Berlin fand man: Recht hat er. In London dagegen fühlte man sich unfair behandelt - eine Revanche für den Brexit? Und die Uefa? Die Uefa halt!

Die Geschichte ist insgesamt grotesk, die Episode rund um das Viertelfinale in Rom illustriert die Absurdität aber in nachgerade exemplarischer Art. Allen Engländern, die in England leben und seit Sonntagabend Tickets fürs römische Olympiastadion gekauft hatten, wurden die Karten nachträglich annulliert. Viele verkauften sie weiter an englische Expats in Italien, es gibt hier 30 000 von ihnen, und das ist vielleicht noch die gescheiteste Option.

Manche werden durchkommen, ihnen gebührt der Triumph der Narren

Andere versuchen trotzdem, nach Rom zu fahren. Englische Tabloids erzählen ihren Lesern, wie Fans Schlupfwege ausgemacht haben wollen - zum Beispiel mit der Autofähre über den Kanal, weiter durch Frankreich bis zur Grenze, etwa in Ventimiglia oder in Bardonecchia, und dann einen Passierschein für einen Kurzaufenthalt aus "Geschäftsgründen" beantragen: 36 Stunden, die sind im Prinzip quarantänefrei. Doch die Behörden haben diese Option für englische Reisende ausdrücklich ausgesetzt.

An ihren Landesgrenzen zu Frankreich postiert Italiens Armee gerade Kontrollpunkte, als drohe eine militärische Invasion: Jeeps in Camouflage, bewaffnete Soldaten - die Bilder gab es am Fernsehen. 3000 Sicherheitskräfte sind insgesamt aufgeboten, sie sollen auch Flughäfen, Seehäfen, Mautstellen auf der Autobahn bewachen und nach Fans suchen. Nach Sehnsüchtigen.

Manche werden es dennoch schaffen, bis nach Rom durchzukommen, es führen ja bekanntlich so viele Wege in die Stadt. Es gebührt ihnen der Triumph der Narren, auch eine Art Pokal. Ins Stadion wird man sie nicht reinlassen, das Olimpico wird nämlich gerade zum Bunker umgebaut. An der Piazza Navona, am Campo de' Fiori, in Trastevere, an der Piazza del Popolo und auf den Kaiserforen - überall, wo sie das Spiel zeigen werden, auf kleinen und sehr großen Bildschirmen, vor und in den Pubs, werden Männer in Uniformen stehen. Grotesk und auch ein bisschen traurig.

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