EM-Momente:Von weinenden Männern

Boateng wird zu Deutschlands beliebtestem Nachbarn, die Uefa verbietet Kinder und das Volk der Isländer stellt sich lautstark in Europa vor. Die EM-Momente der SZ-Sportredaktion.

Irlands Fans

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(Foto: Getty Images)

Irlands Fans haben mit der französischen Poilzei gesungen, statt gegen sie zu kämpfen. Sie haben ein Baby in den Schlaf gesungen, statt es zu wecken. Sie haben einer Frau ein Liebeslied gesungen, statt sie zu belästigen. Sie haben einer alten Dame das Auto repariert, statt es zu demolieren. Sie waren betrunken, fröhlich, lustig und laut. Sie haben sich selbst gefeiert und den Gegner. Ihre Mannschaft war fußballerisch limitiert, aber das wussten sie natürlich und es war ihnen auch ein bisschen egal. Irlands Fans haben dieses Turnier auf der Tribüne und in den Straßen gewonnen und der Welt gezeigt, wie Fußballfans sein können. (schm)

Der entspannte Herr Löw

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(Foto: Getty Images)

Wer bei dieser EM in Stress war, wem die Hektik des Alltags die Sommersonne vermieste, der musste einfach nur in eine Pressekonferenz des DFB schalten. Da saß er, der Herr Löw, trank Espresso und erklärte ausführlich, warum er sich einfach keinen Stress macht. Führungsspielerdebatte? Findet er lustig. Fragen nach einem Italien-Trauma? Lächelt er weg. Löw hat in seinem zehnten Jahr bei der Nationalmannschaft einen neuen Status innerer Ruhe erreicht. Alles schonmal erlebt, alles schonmal dagewesen. Wenn es etwas zu erklären gab, wie die Dreierkette gegen Italien, dann erklärte er es eben. Das hatte er bei vergangenen Turnieren, bei der WM Brasilien zum Beispiel, so noch nicht gemacht. Jetzt ist er nach dem Turnier abgetaucht, seine Zukunft ist offen, aber vermutlich ist es ratsam, auch in dieser Frage einfach entspannt zu bleiben. (schm)

Das "Huh" der Isländer

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(Foto: Getty Images)

Der isländische Fanclub "Tolfan" soll sich den Jubel ursprünglich ausgedacht haben, in Frankreich ist er allerspätestens nach dem Sieg gegen England in die Fan-Geschichte eingegangen. Tausende Nordmänner und Nordfrauen schlagen die Hände zusammen und rufen einen tiefen, kehligen Kampfruf. Ein kalter Jubel einer blauen Armee. Als Favorit wären solche martialischen Jubel gruselig, aber als krassester Außenseiter der EM-Geschichte (Island hat 320 000 Einwohner, man muss es immer wieder schreiben) darf man sich größer machen, als man ist. Die Franzosen bekamen dann auch prompt Ärger, als sie den Jubel kopierten. "Ihr habt uns geschlagen, denkt euch euren eigenen Jubel aus", schrieben zwei isländische Journalisten auf Twitter. Man muss das Huh lassen, wo das Huh hingehört. (schm)

Die Schweizer Trikots halten nicht

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(Foto: Marius Becker/dpa)

CTV Thermo-R ist kein neues Rheuma-Pflaster, sondern stand bei der EM für das sogenannte #trikotgate. Von sieben Schweizer Hemden blieben im Spiel gegen Frankreich nur noch Fetzen übrig. Eine solch fetzige Lumpenparade hatte es davor und danach nicht mehr gegeben. Es wurden hinterher natürlich viele Witze über die zerrissenen Hemden gemacht, über die Vorliebe des Schweizers zum Beispiel zum Loch als solchem. Flaches Niveau halt. Einer, nur einer blieb einem aber über die EM hinaus im Gedächtnis hängen, nämlich der schöne und kluge Satz des ehemaligen Bayern-Profis Xherdan Shaqiri, dessen Trikot in Frankreich ganz blieb: "Ich hoffe, Puma macht keine Pariser." (schma)

Will Grigg sitzt auf der Bank

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(Foto: Petr David Josek/AP)

Das hier im Bild ist übrigens Will Grigg. Der vermutlich meistbesungene Spieler der EM, dessen Gesicht kaum einer kennt. Weil er einfach nicht gespielt hat. Nordirlands Trainer Michael Martin O'Neill (nicht zu verwechseln mit Irlands Trainer Martin Michael O'Neill) hat ihn einfach nicht eingewechselt, obwohl Tausende und Abertausende Fans seinen Namen sangen. "Will Grigg's on fire. Your defence is terrified": Diesen Gesang zur Melodie von "Freed from Desire" erfand ein Fan von Griggs Klub Wigan Athletic und sang es in eine Kamera, lud das Video auf Youtube hoch (es gibt auch eine Version auf die Melodie von Alicia Keys' "This girl is on fire") und von dort verbreitete es sich über die Pubs von Wigan in die Welt. Die nordirischen Fans sangen und sangen, aber ihr Trainer hielt sich einfach nicht an das Drehbuch. Grigg, von dem die meisten mittlerweile denken, er heißt Griggs, blieb auf der Bank sitzen und ist nun trotzdem bekannter als mancher Portugiese, der Europameister ist. (schm)

Österreich weint

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(Foto: AP)

Mit gänzlich unbekannten Gefühlen waren sie angereist, die Österreicher. Österreich war plötzlich wer. Österreich, der geheimste aller Geheimfavoriten, das wusste jeder Tippspiel-Hipster. Dabei ist Österreich auch: das Land, das im Fußball gerne mal nullzuneun in Spanien verliert oder gegen ein paar Walfischer aus Färöer. Österreich, die schizophrenste aller Fußballnationen. Weil: Irgendwie haben sie ja schon immer leiwande Kicker, aber so richtig gebracht haben sie es nie. Und diesmal? Gewürge gegen Ungarn, ein paar Hoffnungsmomente dank Stangerl gegen Portugal - und dann dieses depperte Gruppenendspiel gegen Island. 1:2 stand es am Ende, was bei den Isländern zu heiser gebrüllten Stimmen führte und bei den Österreichern zu Defätismus. Der große David Alaba, ein Häufchen Elend vor der Kamera. Dieser Kerl, der eigentlich alles kann, der niemals Angst hat: das Sinnbild eines enttäuschenden Turniers. "Baba Alaba" stand tags darauf in der Presse und an anderer Stelle schimpfte Hans Krankl, der oberste Narrischmacher des Landes: "Der Alaba spielt bei Bayern viel besser, weil er dort von Weltklasseleuten umgeben ist, von Ribéry und Boateng. Dort spielt er eine ganz andere Rolle, nämlich keine." Das waren dann wieder gewohnte Gefühle: Schimpf und Schande auf Wienerisch. (schm)

Boatengs Rettungstat gegen die Ukraine

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(Foto: dpa)

Zwei beziehungsweise drei Szenen konkurrieren um den deutschen EM-Moment. Einmal die beiden Handspiele von Boateng und Schweinsteiger gegen Italien und Frankreich, die - pardon - beide ungefähr gleich dämlich dem Gegner ein Tor geschenkt haben. Oder eben die Rettungstat von Boateng gegen die Ukraine. Damals, zu Beginn des Turniers, hatte das ja noch eine politische Dimension. AfD-Politiker Alexander Gauland hatte mehr oder weniger deutlich gesagt, dass die Leute einen Boateng nicht zum Nachbarn haben wollen, und dieser Boateng entwickelte sich dann zum Boss des deutschen Spiels. Rettete gegen die Ukraine mit der Eleganz eines Kunstturners, kritisierte nach dem Polen-Spiel die wenig zielstrebige Offensive und spielte zudem oft weltklasse als Innenverteidiger. Joachim Löw sagte. "Es ist gut, wenn man einen Boateng als Nachbar in der Abwehr hat." (schm)

Die Bahnschranke des Joe Hart

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(Foto: Paul Ellis/AFP)

Es gibt auf Youtube zahlreiche Videos, die englische Nationaltorhüter bei der Arbeit zeigen. Meistens sehen sie dabei nicht besonders geschickt aus. Robert Green zum Beispiel traf 2006 bei einem Rückpass einen Ball, den nur er sah, der echte kullerte in der Zwischenzeit ins Tor. "Freak-Tor" taufte Greens Teamkollege Gary Neville darauf diesen grotesken Treffer. Ganz so clownesk trat Joe Hart bei der EM nicht auf. Doch man übertreibt nicht, wenn man feststellt, dass jeder deutsche Keeper den Freistoß des Walisers Gareth Bale und den Schuss von Islands Kolbeinn Sigthorsson ohne größere Anstrengung gehalten und vermutlich das frühe EM-Aus vermieden hätte. Und das auch noch kurz nach dem Brexit. Torhüter made in Great Britain sind sogar im eigenen Land ein Ladenhüter. Nur zwei von ihnen gehörten in der vergangenen Premier-League-Spielzeit zur Stammelf. Einer von ihnen war Joe Hart bei Manchester City. Doch der neue Trainer Pep Guardiola, so heißt es schon, will für ihn einen ausländischen Torhüter verpflichten. (schma)

Mutko feuert die russischen Hooligans an

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(Foto: dpa)

In dem Moment, als russische Hooligans auf der Tribüne von Marseille auf die Engländer zustürmten, um sie zu prügeln, stand ein Mann auf dem Rasen und winkte der Szenerie zu. Es war kein Delegationsleiter, kein kleiner Funktionär, es war der russische Sportminister Witali Mutko. Stunden zuvor hatten russische Hooligans die Innenstadt von Marseille verwüstet, sie trafen dort auf englische Schläger und zusammen ergab das ein Bild von Gewalt und Zerstörung. Der russische Parlaments-Vizepräsident Igor Lebedew schrieb dazu auf Twitter: "Ich kann nichts Schlimmes an kämpfenden Fans finden. Im Gegenteil, gut gemacht Jungs. Weiter so!" Nebenher schied die russische Nationalmannschaft als eines der schwächsten Teams schon in der Gruppenphase aus. In zwei Jahren sind sie selbst Gastgeber einer WM. Schlechter kann eine Generalprobe kaum ablaufen. (schm)

Buffon und Italiens Drama

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(Foto: AFP)

Was hat man über die Italiener vor der EM nicht alles geschrieben. Zu alt, zu schlecht, keinen Stürmer. Dabei haben alle, die das geschrieben haben, die erste Turnier-Regel missachtet: Niemals Italien unterschätzen. Eine italienische Mannschaft, die sich einig ist, die Teamgeist entwickelt, ist kaum zu schlagen. Das bemerkten erst die Belgier und dann die Spanier, die zu dem Zeitpunkt noch Turnierfavorit waren. Die Deutschen wussten, was auf sie zukommt, aber auch sie wären an dieser taktisch-ausgebufften Einheit gescheitert, wenn, sagen wir, Mats Hummels' Elfmeter ein bisschen tiefer und Jonas Hectors Elfmeter ein bisschen höher geflogen wären. Im vielleicht besten Spiel der EM verabschiedeten sich Italiens alte Männer in eine ungewisse Zukunft. Und der große Torhüter Buffon, der Weltmeister, der schon alles erlebt hat? Weinte nach dem Aus. Er will weitermachen bis 2018. Dann wird er 40 Jahre alt sein.

Die Uefa verbietet Kinder

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(Foto: dpa)

Was tut man als Fußballverband, wenn das Turnier, das man ausrichtet, eigentlich ganz geschmiert läuft, wenn hier und da irische, nordirische und isländische Fans für Stimmung sorgen, und wenn ein paar Waliser (auch solche Underdogs wie die Iren, Nordiren und Isländer) für die schönsten Bilder dieser EM sorgen, als sie nach ihrem Sieg im Achtelfinale mit ihren Kindern auf dem Rasen tollen? Die richtige Antwort ist jedenfalls nicht, allen Kindern den Zutritt aufs Spielfeld zu verbieten. Hat die Uefa aber getan. "Das ist eine Europameisterschaft und zumindest auf dem Rasen keine Familienveranstaltung", sagte Turnierdirektor Martin Kallen. Was bleibt also von dieser EM? Singende Iren, klatschende Isländer, niedliche Waliser - und ein verdammt humorloser Fußballverband. (fued)

Cristiano weint

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(Foto: AP)

Da sitzt er und weiß nicht weiter. Es läuft die 17. Minute im EM-Finale zwischen Frankreich und Portugal, als sich Cristiano Ronaldo auf dem Rasen niederlässt und weint. Ronaldo, der Antiheld, auf den sich die Gemeinschaft der Fußballfans als Feindbild geeinigt hat: verletzt und außer Gefecht gesetzt in seinem größten Spiel. Das immer alles wissende Internet weiß nicht, wie es reagieren soll. Häme ausschütten über einen, der am Boden liegt? Ronaldo weint ehrliche Tränen, denn es sollte ja sein Abend werden, der dort auf den Grashalmen im Stade de France endet, nach einem Foul von Dimitri Payet. Es wird dann nicht sein Abend, aber immerhin der Abend ganz Portugals, das entgegen jeder Wahrscheinlichkeit den EM-Titel gewinnt. Es sind die paar Minuten, in denen Ronaldo auf dem Rasen sitzt und heult, in denen wenigstens ein paar Hassern vor den Fernsehern klar geworden sein dürfte, dass dort, mitten im Stade de France, ja bloß ein junger Mann leidet, der mit seinem Team ein Spiel gewinnen wollte. Diese Erkenntnis wäre mehr wert als jeder goldene Ball. (fued)

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