England im EM-Finale:Ewige Verlierer, kurz vor Wolke sieben

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Mit den Weltmeister-Helden von 1966: Die Bobby-Moore-Statue vor dem Wembley-Stadion. (Foto: Frank Augstein/AP)

Vor dem Wembley-Stadion erinnert eine mächtige Statue daran, dass England seit 55 Jahren titellos ist. Im EM-Endspiel gegen Italien kann das Team nun eine Fußball-Nation aus der Apokalypse befreien.

Von Sven Haist, London

Die Statue des großen Bobby Moore ist nicht zu übersehen. Vor dem Haupteingang des Nationalstadions Wembley, dem Goldstück des Inselfußballs, thront seine Bronzeskulptur auf einem sechs Meter hohen Steinsockel, der nur über eine lange Treppe zu erreichen ist. Das Memorial zeigt Moore im Spieloutfit, sein linker Fuß steht auf einem Fußball, die Arme sind verschränkt und sein Blick schweift in die Ferne. Darunter befindet sich sein Name in Großbuchstaben.

Das zwei Tonnen schwere Denkmal des königlichen Bildhauers Philip Jackson wurde im Auftrag der Football Association (FA) entworfen und nach einer Restaurierung des alten Wembley zur Neueröffnung im Sommer 2007 aufgestellt, etwa 14 Jahre, nachdem Moore im Alter von 51 Jahren einem Krebsleiden erlegen war. Von der Statue aus blickt und wacht der Kapitän der englischen Weltmeister von 1966 über den rund 200 Meter langen Wembley Way, über den fast alle Zuschauer gehen müssen, um in die heilige Spielstätte zu gelangen. So erweist ihm also fast jeder Stadionbesucher die Ehre, indem er bei der Anreise zu ihm hochblickt - wie das bei allen alten WM-Fotos der Fall ist, die einem stets das Gefühl vermitteln, zu Moore aufzuschauen. Denn die Fotografen hatten zu dieser Zeit den Hang, ihn vor einem klaren blauen Himmel von unten abzulichten, um seinen Heldenstatus zu betonen.

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Auf der Vorderseite des Memorials mit der Inschrift "Weltmeister, Jules Rimet Cup" befindet sich eine Plakette, auf der die Umrisse seiner Mitspieler zu sehen sind. Zudem enthält das Werk eine ultimative Verneigung des Sportjournalisten Jeff Powell vor dem Lebenswerk von Moore, mit dem er eng vertraut war: "Makelloser Fußballer. Kaiserlicher Verteidiger. Unsterblicher Held von 1966. Der erste Engländer, der den Weltpokal in die Höhe stemmte. Beliebtester Sohn des Londoner East End. Feinste Legende von West Ham United. Nationales Kulturgut. Meister von Wembley. Herr des Spiels. Außergewöhnlicher Kapitän. Gentleman aller Zeiten."

England ist es stets schwergefallen, schmerzhafte Turnierniederlagen zu verarbeiten

Moore war ein wahrlich feiner Mensch, dem diese Idealisierung aufgrund seiner Bescheidenheit wohl eher unangenehm gewesen wäre. Die Verklärung nahm auch deshalb solche Züge an, weil Moore 18 Monate vor dem bis heute einzigen englischen Gewinn des Weltpokals die niederschmetternde Diagnose erhielt, an einem Tumor erkrankt zu sein, der operativ entfernt werden musste. Der damals schon überlebensgroß gemachte Moore wurde später mit jedem Scheitern des Nationalteams bei einer Welt- oder Europameisterschaft alle zwei Jahre noch einen Kopf größer, was seine kickenden Nachfolger zugleich kleiner erscheinen ließ.

Dieses 1966-Phänomen beschrieb einst der renommierte Autor Tony Parsons: "Der englische Fußball ist für immer in einem Moment gefangen und kehrt endlos zu diesem Moment zurück, und kann nicht darüber hinwegkommen, und kann nicht genug davon bekommen, und grübelt über diesen Moment nach, als wäre er ein verlorener Liebhaber, schäumend vor Bedauern, und fragt sich, ob der Moment jemals wiederkommen könnte."

Die Verarbeitung schmerzhafter Turnierniederlagen ist England im Vergleich zu anderen Fußballnationen wesentlich schwerer gefallen. Das dürfte vorwiegend mit der Eigenwahrnehmung zu tun haben, wonach sich das Land (nicht ganz zu Unrecht) als das Mutterland des Fußballs ausgibt und 1872 sogar Teilnehmer des ersten offiziellen Länderspiels war. Aus der Historie heraus manifestierte England seinen Stellenwert im Weltfußball über wunderbare Spieler und ein florierendes Ligasystem. Mit der Einführung der heute weltweit bewunderten Premier League 1992 und der zunehmenden Globalisierung begründete sich immer mehr die Erwartung, die Nummer eins zu sein - nur erfüllte sich dieser Anspruch nie wirklich, wenn die Nationalelf, das eigene Aushängeschild, zu großen Turnieren auf Reisen ging.

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Meist krönte sich dort die Konkurrenz aus Kontinentaleuropa und brachte den begehrten Pokal mit zurück, während die Three Lions häufig nur Pleiten, Pech und Pannen im Gepäck hatten. Die Missgeschicke der Nationalelf machten England vor aller Welt zur Lachnummer, woran das Fußball-Land jedes Mal aufs Neue fast zugrunde ging. Die Bevölkerung und die Medien versuchten stets, gute Miene zum bösen Spiel zu machen, indem sie sich an den steten Niederlagen fast schon zu ergötzen schienen. Aber wer möchte schon immer verlieren? Nicht einmal, nicht zweimal, nicht dreimal, nicht viermal, nicht fünfmal, sondern wirklich immer.

England befindet sich in einem Rausch

Im Gefühl dieses ewigen Verlierens, das sich für Nicht-Betroffene kaum nachempfinden lässt, erklärt sich nun jener kollektive Ausnahmezustand der Engländer seit Beginn der EM vor vier Wochen. Zumal das Turnier einem Heimevent gleicht - mit acht Spielen im Wembley. Mit jeder erfolgreich absolvierten Partie steigerte sich England immer mehr in die Angelegenheit hinein, bis die Leute jetzt in der finalen EM-Woche nichts anderes im Leben mehr zu kennen scheinen als dieses Turnier.

Die Siege über den Erzrivalen Deutschland im Achtelfinale, die Ukraine im Viertel- und zuletzt Dänemark im Halbfinale (2:1) haben England vor seiner historischen EM-Endspiel-Premiere gegen Italien in einen Rausch versetzt, als wäre die Nation mit ungefähr 56 Millionen Einwohnern plötzlich auf Wolke sieben geschossen worden. Erstmals seit 55 Jahren, seit dem WM-Helden Bobby Moore - könnte am Sonntag in Kapitän Harry Kane - dem nicht mal auf Klubebene bisher ein einziger Titel vergönnt war - wieder ein Engländer einen Pokal überreicht bekommen. So nah dran wie jetzt war ein Team seit den 66er-Weltmeistern noch nie.

Ein junger Gareth Southgate nach seinem berühmten Elfmeter-Fehlschuss bei der EM 1996. (Foto: Rights Managed /Mary Evans/imago)

Dabei schien bereits nach dem legendär verlorenen Elfmeterschießen gegen Deutschland im Halbfinale der Heim-EM 1996 der Punkt erreicht zu sein, an dem England den Glauben in seine Fußballer verlor. Die Bevölkerung fügte sich nach dem Fehlschuss des Abwehrspielers Gareth Southgate ins offenkundige Schicksal, wohl nie mehr einen Titel zu gewinnen. Die Hoffnung ging zwar trotzdem nicht verloren, aber geglaubt hat keiner mehr wirklich daran - bis heute. Schon gar keine Zuversicht bestand mehr, als Sam Allardyce als 67-Tage-Trainer im Sommer 2016 spektakulär floppte - und anschließend ausgerechnet durch Southgate ersetzt wurde, der als Elfer-Loser jahrelang mit Hohn und Spott geschmäht wurde.

Boris Johnson stellt im Fall des Titelgewinns einen Nationalfeiertag in Aussicht

Jetzt aber ist es genau dieser Southgate, der als Nationaltrainer mit seinem Team die Nation am Sonntag im Wembley, in der Stätte des bislang größten Erfolgs, aus der Apokalypse befreien kann. Der Pokal würde im Gegensatz zu den beiden bisherigen Endspielen auf englischem Boden (1966 und 1996) nicht von Queen Elizabeth II überreicht werden, sondern wie bei den vorigen fünf EM-Turnieren vom Uefa-Präsidenten, momentan Aleksander Čeferin. Offenbar soll die 95 Jahre alte Königin auch gar nicht zugegen sein, nachdem sie zuletzt bei den Commonwealth Games in Glasgow 2014 zu einem Sportereignis erschienen war. Für den Fall eines Triumphs hat Premierminister Boris Johnson einen Nationalfeiertag in Aussicht gestellt und um Nachsicht gebeten, wenn die Bevölkerung erst im Verlauf des späten Montagmorgens zur Arbeit eintrifft.

Aus dem 22-Mann-Weltmeisterteam des verstorbenen Trainers Alf Ramsey sind übrigens nur noch neun Spieler am Leben: Ian Callagham (79), Bobby Charlton (83), George Cohen (81), George Eastham (84), Ron Flowers (86), Jimmy Greaves (81), Geoff Hurst (79), Terry Paine (82) und Roger Hunt (82). Als Ehrengast aus der damaligen Final-Elf wird wohl einzig der damalige Dreifachtorschütze Geoff Hurst im Wembley sein. Und Kapitän Bobby Moore natürlich: auf seinem Steinsockel.

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