EM-Enttäuschung Niederlande:Kurz vor dem Hauen und Stechen

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Zum ersten Mal seit 17 Jahren verlieren die Niederlande zwei Länderspiele in Folge, gegen Deutschland ging es zudem erstmals in einem großen Turnier mit einem Zwei-Tore-Rückstand in die Pause. Die Fußballnation ist verzweifelt. Nur die theoretische Chance auf das EM-Viertelfinale hält die Beteiligten zusammen. Ab Sonntag könnte das anders aussehen.

Thomas Hummel

Als alle schon fort waren, stand Wesley Sneijder noch in einem Zelt neben dem Metalist-Stadion und gab geduldig Auskunft über sein Innenleben. Nachdem er das schon auf Niederländisch und Englisch gemacht hatte, war nun Italienisch dran. "Ich weiß nicht, was fehlt. Zuerst haben wir als Mannschaft gut gespielt, aber nun nicht mehr."

Niederländische Spieler in der Partie gegen Deutschland (hier Mats Hummels): Schonfrist bis Sonntag (Foto: Vadim Ghirda/AP)

Die Uhr lief stramm auf ein Uhr morgens ukrainischer Zeit zu, doch der Mittelfeldspieler von Inter Mailand mit den vielen Tätowierungen und dem Ruf, ein recht selbstverliebter Kerl zu sein, sprach immer noch höflich und freundlich. Er machte keine Anstalten, so schnell wie möglich hier abhauen zu wollen. Doch dann kam doch ein Pressemitarbeiter des Koninklijke Nederlandse Voetbal Bond und zerrte ihn raus. Irgendwann musste mal Schluss sein mit der Selbstkritik. Denn an Kritik am eigenen Auftritt fehlte es den Niederländern nach dem 1:2 in Charkow gegen Deutschland wahrlich nicht.

Manchmal wurde die eigene Person mit einbezogen, manchmal bekam ein Mitspieler einen verbalen Hieb, ziemlich häufig der Trainer Bert van Marwijk. Wenn es nicht gut läuft, nehmen die Niederländer kein Blatt vor den Mund. Und es ist ja wirklich nicht gut gelaufen bislang für einen der großen Favoriten dieser Europameisterschaft. 0:1 gegen Dänemark, 1:2 gegen Deutschland.

Zum ersten Mal seit 17 Jahren verlor "Oranje" zwei Länderspiele in Folge, gegen Deutschland ging es zum ersten Mal in einem großen Turnier mit einem Zwei-Tore-Rückstand in die Kabine. Noch nie hat es eine Mannschaft nach Niederlagen in den ersten beiden Partien geschafft, noch die K.-o.-Runde zu erreichen.

Die niederländischen Medien betrieben fast Selbstkasteiung mit der Aufzählung aller möglicher Superlative. Das Desaster in der Ukraine trifft das Fußballland hart. Und würde nicht die theoretische Möglichkeit bestehen, doch noch das Viertelfinale zu erreichen, es wäre in Charkow schon zum ganz großen Hauen und Stechen gekommen. So haben alle Beteiligten noch eine Schonfrist bis Sonntag.

Dann müssen die Niederländer die starken Portugiesen mit zwei Toren Differenz schlagen und, was fast schlimmer ist, auf die Nachbarschaftshilfe der Deutschen hoffen. Die müssen gleichzeitig die Dänen besiegen, dann ginge es für die Niederländer im Viertelfinale wieder von null los und alles wäre wieder möglich. Arjen Robben hatte immerhin gute Nachrichten: Seine deutschen Mitspieler beim FC Bayern hätten ihm gesagt, "sie werden versuchen, die Dänen zu schlagen".

Vorher wirkte Arjen Robben nicht so hoffnungsvoll. Eher verstört und desorientiert von der eigenen Leistung stieg er nach seiner Auswechslung auf der Gegengerade über die Werbebande, zog sein Trikot aus und lief um das halbe Spielfeld herum zur Trainerbank. Dort setzte er sich neben seinen ebenfalls bereits ausgewechselten Ex-Bayern-Kameraden Mark van Bommel. Die beiden sahen aus wie zwei Fans, die die 2400 Kilometer von Amsterdam zu Fuß in den Osten der Ukraine gelaufen sind und dann bemerkten, dass sie ihre Tickets fürs Spiel zu Hause in der Schublade vergessen hatten.

Konnten die Niederländer gegen Dänemark noch zu Recht darauf hinweisen, dass sie viel Pech gehabt hatten, waren sie dieses Mal fast durchwegs unterlegen. Die De-Luxe-Offensivreihe mit Sneijder, Robben, Ibrahim Afellay und Robin van Persie brachte vor der Pause viel zu wenig zustande, und arbeitete zudem viel zu wenig nach hinten.

Weil die Abwehr und die defensiven Mittelfeldspieler van Bommel und Nigel de Jong aber großen Respekt vor den Deutschen hatten, wichen sie sehr weit nach hinten zurück, womit der bespielbare Platz für den Gegner viel zu groß wurde. Zu sehen vor dem 1:0 durch Mario Gomez, als Bastian Schweinsteiger plötzlich völlig frei stand und seelenruhig den entscheidenden Pass spielte.

Auch beim 2:0 durch Gomez lief der Ball reibungslos durch das Mittelfeld der Deutschen. Trainer Bert van Marwijk beklagte, dass seine Elf dem Gegner "viel zu viel Platz gelassen hat". Auch in der Abwehr seien Fehler gemacht worden. Er habe versucht, das in der Halbzeit zu korrigieren, brachte Rafael van der Vaart und Klaas-Jan Huntelaar - doch es war zu spät.

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Bundestrainer Joachim Löw sah, "dass die Holländer nach 60, 70 Minuten körperlich kaputt waren", ausgelaugt von der Hitze in Charkow und von der Hartnäckigkeit des Gegners. Nur eine Einzelleistung von Robin van Persie zum 1:2 brachte noch einmal Hoffnung für die Niederländer, doch wieder vergaben sie danach zwei, drei schöne Gelegenheiten und am Ende wirkten sie tatsächlich müde.

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Nun war klar, dass in dem Fußballexperten-Land Holland sogleich die Debatte um Trainer Bert van Marwijk ansetzte. Sein Festhalten an den beiden defensiven Mittelfeldspielern von der Art Zerstörer, van Bommel und de Jong, wird ihm nun vorgehalten.

Das Opfer dieser Entscheidung, Rafael van der Vaart, ließ seinen Frust freien Lauf: Diese Aufstellung sei nicht richtig gewesen, jeder habe gesehen, dass Holland dann stark sei, wenn es selbst den Ball halten könne. Die Aufstellung in der zweiten Halbzeit komme der holländischen Spielweise viel mehr entgegen. Van der Vaart wollte damit sagen: Er spielt holländischer als van Bommel oder de Jong, deshalb muss er spielen.

Van Marwijk verteidigte sich. Das Problem sei nicht die Aufstellung oder die Taktik gewesen, sondern dass einige Spieler nicht ihre Leistung gebracht hätten. Zum Beispiel der 35-jährige van Bommel, vor allem auch die Außenstürmer Robben und Afellay. Ob er denn unterschätzt hätte, dass die Bayern-Profis beim Gegner den Bayern-Profi Robben so gut kennen würden? Van Marwijk entgegnete: "Wenn Robben gut drauf ist, kann ihn niemand stoppen."

Van Marwijk wird im letzten Gruppenspiel vermutlich von Beginn an alles riskieren, den vier offensiven Spielern im System noch den Feinfuß van der Vaart hinzusetzen. Zwei Tore gegen Portugal schießt man nicht alle Tage. Doch das größere Problem könnte sein, dass die Abwehr dann gegen Cristiano Ronaldo und Nani standfest sein muss, und nach den Informationen von Joachim Löw ist das sehr unwahrscheinlich: "Wir wussten, dass sie Probleme in den Schnittstellen zwischen den Außen- und Innenverteidigern haben, genau so sind dann auch die Tore gefallen."

Doch wer weiß: Vielleicht ist es für den holländischen Fußball auch mal wieder an der Zeit, für einen echten Superlativ zu sorgen.

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