Leon Goretzka in der DFB-Elf:Mehr Muskeln für Deutschland

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Jogis Joker: Leon Goretzka und Bundestrainer Löw herzen sich nach dem Erreichen des Achtelfinales. (Foto: Jan Huebner/imago)

Im Achtelfinale gegen England könnte Leon Goretzka der unstetigen deutschen Elf geben, was sie braucht. Doch er muss auch beweisen, dass er nicht nur ein Spieler für große Momente ist.

Von Christof Kneer, London/München

Der Torwarttrainer Andreas Köpke war damals wirklich unterfordert. Auf dem frisch angebauten Trainingsplatz im brasilianischen Santo André warf er seinem Torwart Bälle hin wie einem E-Jugendlichen. Der für einen E-Jugendlichen recht groß gewachsene Torhüter fing diese Bälle in tadelloser Manier, aber am Rande des Trainingsplatzes fertigten die Reporter düstere Berichte an. Kaum einer vergaß zu notieren, dass dieser Torwart keine Bälle über Hüfthöhe fing und dass er alles in allem keineswegs den Eindruck eines Torhüters machte, der in ein paar Tagen in einem Weltmeisterschaftstor stehen kann.

Im Achtelfinale der WM 2014 hat sich Manuel Neuer dann mehreren Algeriern entgegengeworfen, im Viertelfinale hat er den Schuss eines Franzosen mit einer Bewegung abgewehrt, bei der er die Hände weit über Hüfthöhe trug. Im Finale hat er dem Argentinier Higuain mit sehr gesundem Körpereinsatz einen Bodycheck zukommen lassen. Danach hat er, offenkundig schmerzfrei, den WM-Pokal in die Höhe gehoben.

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Weil der Bundestrainer bei der EM andere Prioritäten setzt, können die Bayern-Spieler ihre im Verein bewährten Automatismen kaum nutzen. So wirkt im Offensivspiel der DFB-Elf vieles zufällig - wie sich an Thomas Müller zeigt.

Von Christof Kneer

Joachim Löw ist so lange dabei, dass er fast alles schon erlebt hat, und eine seiner zentralen Erfahrungen hat er schon relativ früh gemacht. Dass ein Turnier zwar mit dem ersten Spiel beginnt, im Idealfall aber eine Weile andauert. Dass ein Spieler, der verletzt in ein Turnier startet, nicht zwingend ein Grund zur Sorge sein muss. Dass es sich lohnen kann, auf die wirklich wichtigen Spieler zu warten.

Es wäre eine klassische Jogi-Löw-Turniergeschichte, wenn Leon Goretzka in knapp zwei Wochen ebenfalls einen Pokal über Hüfthöhe stemmen würde. Es könnte eine Geschichte werden wie 2014, als sich Löws zentrales Mittelfeld auch erst aus der Turnierdynamik ergab. Bastian Schweinsteiger und Sami Khedira konnten auf dem Trainingsplatz in Santo André zwar die Bälle über Hüfthöhe schießen, aber in den ersten Wochen taten sie das mit unterschiedlich verwundeten Körpern und sehr wenig Spielpraxis. Erst im Viertelfinale haben sie zu jener Doppelherz-Kombination zusammengefunden, die Deutschland zum WM-Sieg pumpte.

Goretzka wird anstelle von Ilkay Gündogan in der Startelf erwartet

Als der Bundestrainer am Montag in den Flieger nach London stieg, hat er diese Erinnerungen natürlich mit an Bord genommen, sie sind griffbereit im Handgepäck verstaut. Alle externen und auch internen Kenner erwarten, dass Leon Goretzka pünktlich zum Beginn der K.-o.-Runde in Löws Startelf rückt, vermutlich anstelle von Ilkay Gündogan, der aus dem Ungarn-Spiel eine Schädelprellung mit ins Teamcamp nach Herzogenaurach nahm. Zwar hat Gündogan am Montag wieder mit den Kollegen trainiert, aber seine kleine Blessur könnte Löw als Argumentationshilfe dienen, um diese Veränderung zu wagen. Auch das wäre ja ein Klassiker der Turniergeschichte: Ein verletzter wichtiger Spieler nimmt nach erfolgter Genesung den Platz eines ebenfalls wichtigen Spielers ein, dem seinerseits eine kleine Verletzung dazwischen kommt.

Goretzka war wegen eines Muskelfaserrisses ein paar Wochen raus, aber schon vor dem Ungarn-Spiel hat er sich wieder startelf-tauglich gemeldet. Löw war das noch zu früh, er wollte und konnte sich noch nicht entscheiden, aber die Macht des Faktischen hat sich jetzt hilfreich eingemischt. Der eingewechselte Goretzka rettet der DFB-Elf mit dem 2:2-Ausgleichstreffer gegen Ungarn das Weiterkommen, und dann zeigt er dem umstrittenen ungarischen Fanblock vor den Augen der Welt ein moralisch einwandfreies Herz: Wer soll gegen solche Bilder ankommen?

Leon Goretzka, 26, ist das Ass, das Jogi Löw nach einer schwer entzifferbaren Vorrunde noch im Ärmel hat, Goretzka könnte der DFB-Elf jetzt geben, was sie braucht. Der Mitspieler Thomas Müller hat in seinem Grundsatzreferat am Wochenende verfügt, dass die Mannschaft es schaffen müsse, "den Druck auf den Ball hochzuhalten", er hatte dabei das 1:0 der Ungarn vor Augen. Niemand hielt da den Druck auf den Ball hoch, Toni Kroos zeigte nur geringfügiges Interesses an der Verhinderung einer Halbfeldflanke, wenige Augenblicke später lag der Ball im deutschen Tor. Goretzka, so die Hoffnung, könnte da künftig seinen massiv ausgebauten Körper dazwischen stellen.

Hansi Flick förderte Leon Goretzka beim FC Bayern - nach der EM trainiert er ihn als Bundestrainer. (Foto: Kai Pfaffenbach/Reuters)

"Leons Aggressivität und seine Ballgewinne im Mittelfeld haben uns immer sehr gut getan", sagt der ehemalige Bayern-Trainer Hansi Flick, der Goretzka in München gefördert und befördert hat. "Auch seine Torgefährlichkeit kann für jede Mannschaft wichtig sein." Flick war im Frühjahr 2020 auch in den Gesprächen mit Goretzka und Holger Broich dabei, dem wissenschaftlichen Leiter des FC Bayern; gemeinsam kamen sie zu dem Schluss, dass der gelegentlich etwas verletzungsbegabte Goretzka ein robusteres Mandat benötigt, um sich im anspruchsvollen München durchzusetzen. In der Corona-Pause hat er sich jene Muskelpakete antrainiert, die er nun prominent auf seinem Twitterkanal ausstellt.

Überragende Sequenzen mischt er manchmal noch mit kurzen Dös- und Dämmerphasen

Sollte die DFB-Elf noch eine Weile im Turnier verbleiben, könnte diese Europameisterschaft für Goretzka zur entscheidenden Leistungsmesse werden. Denn noch wirkt sein Spiel muskulöser, als es wirklich ist, mitunter ist Goretzka immer noch ein Momente-Mann. Er mischt überragende Sequenzen immer noch mit kurzen Dös- und Dämmerphasen, in denen er dem Spiel abhanden kommt. Immer noch finden sich in der Spielanalyse hinterher Szenen, in denen ihn seine Trainer beim Rückwärtstraben erwischen, während der gegnerische Angriff schon längst losgerollt ist.

Zurzeit ist Goretzka so etwas wie der größte gemeinsame Nenner im deutschen Fußball, auf ihn können sich die Leute vereinsübergreifend einigen. Er ist der Mann mit der richtigen Haltung, sehr oft sagt er die richtigen Sätze zur richtigen Zeit. Insofern tut er nicht nur dem Mittelfeld des FC Bayern und der Nationalmannschaft gut, sondern auch dem deutschen Fußball, weil er auch für die Fußballskeptiker im Volk wählbar ist. Er ist so etwas wie der kickende Beweis, dass es den oft zitierten mündigen Fußballprofi wirklich gibt, und ganz unbedingt muss man ihm auch für die Titelgeschichte im Magazin der Deutschen Bahn danken. Sie ist so lang, dass man auch die Verspätung in Kassel-Wilhelmshöhe ausgezeichnet übersteht.

Aber Goretzka weiß auch, dass jemand, der sich so exponiert wie er, auf einem schmalen Grat Fußball spielt. Ein Gutmensch sollte auch guten Fußball spielen, sollte auch im Spiel Haltung zeigen - allein schon, um der Gefahr zu entgehen, seine öffentliche Darstellung als Inszenierung misszuverstehen. Die Theorieprüfung in Mündigkeit hat Leon Goretzka längst mit Bravour bestanden, aber die praktische Prüfung ist in diesem öffentlichen Gewerbe nie wirklich abgeschlossen.

Der deutsche Fußball wird den Muskelmann brauchen, jetzt, da es in England gegen England geht. Der Bundestrainer hat auf Leon Goretzka gewartet, und mit seinem Tor gegen Ungarn hat Jogis Joker schon mal losgelegt.

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