Dänemarks EM-Aus:"Es fühlt sich nicht gerecht an"

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Dänemark verabschiedet sich nach einer bewegenden EM. (Foto: Laurence Griffiths/Pool via Reuters)

Knapp vier Wochen nach dem Zusammenbruch von Christian Eriksen scheitern die Dänen an der Schwelle zum Endspiel. Und fühlen sich um die Chance auf ein Finale in Wembley betrogen.

Von Javier Cáceres, London

Wie sehr es am Mittwoch in den Dänen gärte, war am besten einer wohlüberlegten Entsagung zu entnehmen: "Ich muss jetzt vorsichtig sein mit dem, was ich sage ...", sagte Stürmer Martin Braithwaite vom FC Barcelona gleich zweimal, als er Mittwochnacht im Pressekonferenzsaal saß und zusammen mit Trainer Kasper Hjulmand auf das gerade verlorene Halbfinale gegen England zurückblickte.

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Der Elfmeter für England gegen Dänemark war kein Elfmeter, aber das kommt vor. Fraglich ist eher, warum in einer solchen Situation der Bildschirm auf dem Feld nicht genutzt wird - auch im Interesse des Schiedsrichters.

Kommentar von Martin Schneider

Die Vorsicht galt wohl vor allem dem überaus schmeichelhaften Elfmeter, der den Gastgebern zuerkannt worden war und letztlich den 2:1-Endstand verursachte. "In einem solchen Spiel so zu verlieren, ist einfach bitter", sagte Hjulmand, nachdem er den Engländern im Allgemeinen und seinem Kollegen Gareth Southgate im Besonderen hochachtungsvoll gratuliert hatte. "Es fühlt sich nicht gerecht an. Das ist etwas, das mich wütend macht. Ich bin enttäuscht", sagte Hjumland. Und dass dies am Ende einer so unglaublichen Reise geschah, schmerzte ihn umso mehr.

Die Reise war natürlich geprägt von den Bildern aus dem ersten Gruppenspiel der Dänen gegen Finnland, vom Kollaps Christian Eriksens, der einst als Tottenham-Spieler in Wembley zuhause war. Eriksen war vor knapp vier Wochen auf dem Rasen in Kopenhagen zusammengebrochen und hatte ins Leben zurückgeholt werden müssen; später wurde ihm ein Defibrillator implantiert, er ist wohlauf. Und das Thema blieb präsent, auch - oder erst recht - am tragischen Mittwoch in London.

"Mir fehlen die Worte, um zu sagen, wie sehr ich diesen Stab und diese Spieler bewundere. Wir haben dort Menschen, die das Leben eines unserer besten Spieler gerettet haben. Wir haben so viel durchgemacht und haben trotzdem guten Fußball gespielt", erklärte Hjulmand, der frühere Mainz-05-Coach. Nach dem Zusammenbruch von Eriksen habe man die Unterstützung, die den Dänen "Home & Abroad" entgegenschlug, wie der Brite sagen würde, tatsächlich gebraucht; und sie lebte auch am Mittwochabend fort.

Eine Entscheidung fürs Museum

Englands Kapitän Harry Kane übergab seinem dänischen Kollegen Simon Kjaer ein weißes Trikot mit dem Wappen der "Three Lions", unterzeichnet von allen Spielern der englischen Mannschaft, mit den besten Genesungswünschen. Andererseits: Vor dem Hintergrund des Zusammenbruchs von Eriksen und seiner augenscheinlich gut verlaufenden Konvaleszenz konnte man wohl auch eine gewisse Dankbarkeit dafür empfinden, dass man sich über vergleichsweise banale Dinge des Lebens austauschen konnte - wie einen Strafstoß, den man als ungerecht empfand.

"Ich fühle Leere in meinem Körper. Es ist eine verdammte Schande", sagte etwa Mikkel Damsgaard, der die Dänen mit einem großartigen Freistoß in Führung gebracht hatte (1:0/30) und damit die Träume seiner Landsleute vom zweiten EM-Finale nach 1992 mindestens ebenso in den Himmel schießen ließ wie Kasper Schmeichel mit teilweise grandiosen Paraden.

Machtlos war Schmeichel nur beim Eigentor von Kapitän Kjaer zum 1:1 - dem bereits elften Beitrag zu dieser Eigentor-Rekord-EM. Und Schmeichel war auch machtlos beim Elfmeter-Nachschuss von Kane zum 2:1. Die Nachrichtenagentur dpa berichtete, beim Public Viewing vor den großen Videoleinwänden hätten in Kopenhagen Hunderte Fans geweint, als das Aus in London feststand. Und hier und da war in Dänemark die Anregung zu lesen, den Elfmeter im British Museum auszustellen.

Dort sind eine Reihe von Artefakten zu sehen, die zu Zeiten des Empires geklaut wurden. Nur: Schätze wie den Rosetta-Stein oder die Beninbronzen kann man mit ein wenig politischem Willen restituieren. Einen fragwürdigen Elfmeter zurückzunehmen, ist nach Abpfiff unmöglich.

Es flossen daher nicht nur in Kopenhagen, sondern auch auf dem Rasen in Wembley Tränen, vor allem bei Mathias Jensen, der von Hjulmand in den Arm genommen werden musste. Jensen war an der Elfmeterszene beteiligt gewesen, es wirkte, als machte er sich Vorwürfe. Schon eher zu hinterfragen waren die frühen und taktisch massiven Auswechslungen durch Hjulmand. Warum nahm er nur die Stürmer Damsgaard und Dolberg aus dem Spiel?

"Ich denke, dass große Dinge vor diesem Team liegen"

Zu den allermeisten dieser Wechsel sei er gezwungen gewesen, erklärte der Trainer. Der Stress der letzten Wochen, die Anspannung der Partie, die Reise zum Viertelfinale in die Hauptstadt Aserbaidschans - all diese Dinge forderten ihren Tribut.

In der Schlussphase der regulären Spielzeit mussten sich in Andreas Christensen und Thomas Delaney gleich zwei Schlüsselspieler vom Rasen verabschieden. Als auch noch Mathias Jensen den Platz verlassen musste, hatte Hjulmand das Wechselkontingent bereits ausgeschöpft. So musste Dänemark die Partie mit zehn Mann beenden - und das hieß: Game over.

"Natürlich sind wir unglaublich traurig, dass wir jetzt fertig sind, aber so ist das", sagte Kjaer, der sich als einer der letzten Spieler zur Kurve schleppte, wo die Fans der Dänen standen. Das Team bedankte sich für die Unterstützung, die weit über den Abend von Wembley hinausging. Ihre Gesichter sahen ernst aus, die Kamera fing sie ein und sendete die Bilder auf die Leinwände im Stadion, wo die heimischen Fans spektakulär feierten: mit dröhnender Musik, ohrenbetäubendem Gegröle und Aerosolwolken, die nach Bier rochen.

"Das müssen wir erst mal verdauen, dann greifen wir wieder an", sagte Braithwaite, auch Hjulmand versuchte, die Niedergeschlagenheit zu überwinden. Er sagte: "Ich denke, dass große Dinge vor diesem Team liegen. Ich denke, wir können das noch einmal schaffen. Ich habe das Gefühl, dass wir noch besser werden."

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