Deutschland bei der Eishockey-WM:Klassiker in neuer Aufführung

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Hohe Eishockeykunst: Marcel Noebels zaubert den Puck 2021 am Schweizer Nationaltorhüter Leonardo Genoni vorbei und Deutschland ins Halbfinale. (Foto: ActionPictures/Imago)

Duell an diesem Nachmittag: Deutschland gegen die Schweiz bei der Eishockey-WM, wieder im Viertelfinale, wieder in Riga - wieder mit dem besseren Ende für das DEB-Team? Marcel Noebels weckt beim Gegner ungute Erinnerungen.

Von Johannes Schnitzler, Tampere

Wenn man ein bestimmtes Ereignis aus seinem geschichtlichen Kontext chirurgisch sauber herauslösen könnte wie mit einem Skalpell und an eine andere Stelle auf dem Zeitstrahl transplantieren, zum Beispiel einen berühmten Beckenbauer-Werbespot ("Ja, is' denn heut' schon Weihnachten?") in einen Stall nach Bethlehem vor etwa 2000 Jahren ... Große Teile der Bibel müssten neu geschrieben werden.

Ist natürlich streng verboten! Erstes Doc-Brown'sches Zeitreise-Gesetz: Eingriffe in die Vergangenheit könnten das Raum-Zeit-Kontinuum auflösen und das ganze Universum vernichten ("Zurück in die Zukunft", 1985 ff.). Was aber, wenn man einen klitzekleinen Zeitschnipsel aus der Vergangenheit auf ein zu erwartendes Ereignis projizieren könnte? Etwa den Penalty von Marcel Noebels aus dem WM-Viertelfinale 2021 gegen die Schweiz auf das WM-Viertelfinale Deutschland gegen die Schweiz an diesem Donnerstag (15.20 Uhr, Sport 1 und Magentasport)? Jene vier, fünf Sekunden, in denen Noebels anläuft, vor Leonardo Genoni, dem Schweizer Torhüter, einen Haken nach links schlägt, den Torhüter mit sich zieht, den Puck dann am rechten Pfosten ablegt und mit nur einer Hand am Schläger über die Torlinie schiebt? Und Deutschland steht wieder im Halbfinale?

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Einen "Forsberg" nennen die Eishockeyspieler diesen Trick, nach seinem schwedischen Erfinder, vergleichbar mit einem Panenka-Elfmeter beim Fußball, rotzfrech und technisch anspruchsvoll. Von einem deutschen Eishockeyspieler hatte man derlei bis dato nicht gesehen, schon gar nicht in einem wichtigen K.-o.-Spiel bei einer WM.

Einfach noch mal denselben Zaubertrick aufführen? Der Gedanke amüsiert Noebels. "Ich bin eigentlich gerne spontan", sagt der Berliner. "Ich nehme schöne Momente aus der Vergangenheit mit. Aber die Jungs haben Bock auf eine neue Geschichte."

"Weißes Ballett? Ehrlich?" Bundestrainer Harold Kreis sieht die Schweiz als Favoriten, aber ängstlich ist er nicht

Geschichte wiederholt sich nicht, sie schreibt sich laufend fort, schon klar. Aber in abgewandelter Form hat sich die Geschichte der K.-o.-Spiele zwischen Deutschland und der Schweiz bei großen Eishockeyturnieren zuletzt drei Mal ähnlich zugetragen, immer mit dem besseren Ende für die deutsche Mannschaft: 2010 bei der Heim-WM im Viertelfinale (1:0); 2018 auf dem Weg zur Olympia-Silbermedaille (2:1, Playoff zum Viertelfinale); und 2021 bei der WM in Riga/Lettland, wieder im Viertelfinale: 3:2 nach Penaltyschießen mit Noebels' denkwürdiger Entscheidung.

Nun also: Deutschland-Schweiz zum Vierten. Wieder im Viertelfinale, wieder mit Noebels, wieder mit Genoni, wieder in Riga. Und wieder mit dem Sieger Deutschland?

Wie 2021 spricht im Grunde alles für die Schweiz, den überlegenen Sieger der Gruppe B. Nach der Vorrunde mit sechs Siegen in sieben Spielen, darunter ein 3:2 gegen Kanada und ein 4:2 gegen Tschechien, war in den leicht entflammbaren Schweizer Medien schon vom "weißen Ballett" zu lesen: "elegant, schnell, leichtfüßig und präzis". Darauf angesprochen, reagierte der deutsche Bundestrainer Harold Kreis erst amüsiert ("Weißes Ballett? Ehrlich?") und antwortete dann auf die Frage, in welcher Rolle er sein Team sehe: "Ich kenne mich mit Theater und Ballett nicht so gut aus. Aber sicher nicht als sterbenden Schwan."

Kreis hat viele Jahre in der Schweiz gearbeitet und dort zwei Meistertitel als Cheftrainer gefeiert, er sagt: "Die Schweizer sind schon Favorit. Sie spielen beeindruckend, mit hoher offensiver Schlagkraft. Aber sie werden das Spiel bestimmt nicht diktieren. Wir werden auf Augenhöhe gegen sie antreten."

Die Neue Zürcher Zeitung hält dagegen: "Die Schweiz verfügt über mehr Kadertiefe und die besseren Individualisten, es dürfte dem deutschen Coach einiges an Kopfzerbrechen bereiten, wie er der Schnelligkeit der Schweizer begegnen will." Antwort von Kreis: "Mit unserem Willen, mit unserem Können und unserer Geschlossenheit." Nach drei unglücklichen Niederlagen gegen Topnationen anschließend vier Spiele unter Druck in Serie zu gewinnen: Nehmt das, Nachbarn!

Das Team von Patrick Fischer wiederum verlor am Dienstag nach 15 Erfolgen nacheinander erstmals wieder ein WM-Vorrundenspiel, gegen den WM-Co-Gastgeber Lettland, der sich so ebenfalls fürs Viertelfinale qualifizierte, 3:4 nach Verlängerung. Dabei schonte Fischer aber die drei NHL-Profis Nico Hischier, Nino Niederreiter und Denis Malgin.

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In Schweizer Medien macht das Wort vom Vorrundenweltmeister die Runde

Die Schweizer sind mit insgesamt sechs Spielern aus der nordamerikanischen Profiliga NHL angereist. "Sie haben das große Ziel, Weltmeister zu werden. Dafür tun sie alles, dafür kommen sie alle", sagt der deutsche Mittelstürmer Dominik Kahun, der für den SC Bern spielt. Marcel Noebels ist dennoch überzeugt: "Der Schweizer freut sich bestimmt nicht, dass der Deutsche wieder vor ihm steht."

Bundestrainer Kreis glaubt an ein "sehr hart umkämpftes, enges Spiel", er sagt: "Die Zeiten sind vorbei, in denen die Schweizer die Deutschen fürchten. Darauf können wir also nicht setzen. Dass die die Nerven verlieren gegen eine deutsche Mannschaft, das ist wirklich vorbei." Die früheren Duelle gegeneinander seien aber durchaus ein Thema zwischen ihm und seinen Klubkollegen, verrät Dominik Kahun: "Wir reden natürlich viel über solche Spiele, das ist immer ganz lustig."

So ganz scheinen die Schweizer die jüngsten Niederlagen nicht verwunden zu haben. Die ebenso leicht zu erregenden Schweizer Medien jedenfalls rechneten Patrick Fischer wieder einmal vor, dass sich die "Nati" unter ihm nun zwar zum neunten Mal für ein Viertelfinale bei einem großen Turnier qualifiziert hat - aber nur ein Mal, bei der WM 2018, gelang auch der nächste Schritt (damals holte die Schweiz Silber). Das Wort vom "Vorrunden-Weltmeister" macht wieder die Runde.

Er sei schon jetzt "Feuer und Flamme" für diesen Klassiker, sagte Noebels nach dem 5:0 gegen Frankreich, als noch der Schweiß des letzten Gruppenspiels von seiner Nasenspitze tropfte. "Donnerstag kann gar nicht schnell genug kommen, ich würde am liebsten jetzt schon wieder aufs Eis gehen."

Und wenn es tatsächlich wieder zum Penaltyschießen kommen sollte? "Darüber habe ich mir noch keine Gedanken gemacht", sagte Noebels und grinste. "Vielleicht mach ich's noch mal und hoffe, dass ich das Glück auf meinem Schläger habe."

Wenn es nach Kreis geht, besteht nicht die Gefahr, sich in einer Zeitschleife zu verfangen. Penaltyschießen? "Dazu wird es nicht kommen", sagte der Bundestrainer. Ängstlich klang er dabei nicht.

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