Deutschland bei der Eishockey-WM:Zeit für die Müllmänner

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Dahin, wo es wehtut: Moritz Seider (links) im Spiel gegen die USA. (Foto: Pavel Golovkin/dpa)

Die deutsche Eishockey-Mannschaft muss bei der WM ab sofort nicht nur gut spielen, sondern auch gewinnen. Nur wie? "Dreckige Tore" sollen ein Ansatz sein.

Von Johannes Schnitzler, Tampere

Wenn im Fernsehen Werbung läuft, kommt die Putzkolonne. Powerbreaks heißen diese 90-sekündigen Unterbrechungen. Dann flitzen bei der Eishockey-Weltmeisterschaft in Tampere und Riga junge Menschen in schwarzen Spandex-Anzügen auf das Eis, ausgerüstet mit Schaufeln und Eimern, und säubern in einer perfekt einstudierten Choreografie das Spielfeld vom Schnee, den zwölf Paar Schlittschuhkufen unablässig von der Oberfläche schaben. Damit der Puck danach wieder sanft dahingleiten kann. Diese Besenstiel-Bande, die immer zur Mitte eines Drittels in Aktion tritt, erledigt ihre Arbeit wie ein Ninja-Kommando mit Schweizer Reinlichkeitsfimmel, präzise, perfekt koordiniert, geräuschlos. Danach ist das Eis wieder porentief sauber.

Verflucht sollen sie sein.

Wenn die deutsche Eishockey-Nationalmannschaft aus ihren ersten drei Spielen bei dieser Weltmeisterschaft eine Lehre gezogen hat, dann nämlich diese: Ein bisschen mehr Schmutz muss her.

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:Der außergewöhnlichste deutsche WM-Debütant

Nico Sturm galt lange als nicht gut genug. Inzwischen ist er Stanley-Cup-Sieger und will seine ruhige Art beim Nationalteam vorleben - was nach den Niederlagen gegen Schweden und Finnland besonders wichtig sein könnte.

Von Johannes Schnitzler

"Wenn wir uns was ankreiden können, dann, dass es in den entscheidenden Phasen nicht dreckig genug war", sagte NHL-Profi Nico Sturm nach dem 2:3 gegen die USA, der dritten Niederlage im dritten Spiel, zum dritten Mal mit einem Tor Unterschied. Wieder hatten die Deutschen wie beim 0:1 gegen Schweden und beim 3:4 gegen Gastgeber und Titelverteidiger Finnland mehr als nur gut mitgehalten. "Wir waren deutlich die bessere Mannschaft, wer das anders sieht, soll mir das erst mal erklären", sagte Moritz Seider, im Berufsalltag Verteidiger bei den Detroit Red Wings. "Wir haben hier drei Top-Spiele gespielt gegen Top-Nationen, zum Teil dominiert", sagte Samuel Soramies, der Schütze des deutschen Ausgleichs zum 1:1. "Es ist wirklich ärgerlich, dass die Mannschaft wieder ohne Punkte das Eis verlassen muss", sagte Bundestrainer Harold Kreis. Null Punkte nach drei Spielen zu haben bedeutet nämlich auch, dass sein Team die verbleibenden vier Gruppenspiele gegen Dänemark (Donnerstag, 19.20 Uhr/Sport 1 und Magentasport), Österreich, Aufsteiger Ungarn und Frankreich wohl alle gewinnen muss, um noch ins Viertelfinale zu kommen und die Chance zu wahren, sich direkt für die Olympischen Spiele 2026 zu qualifizieren. "Dass jetzt der Druck da ist, das ist natürlich vollkommen klar", sagte Sturm.

Kreis, der erstmals bei einer WM als Chefcoach in der Verantwortung steht, macht dennoch einen zuversichtlichen Eindruck. "Wir haben zwei Tage frei, können uns sowohl physisch wie auch gedanklich erholen, vielleicht ein bisschen Abstand vom Stadion gewinnen", sagte der 64-Jährige. "Das tut sicher gut." Der Dienstagmorgen stand jedem frei zur individuellen Verfügung, am frühen Abend wollten die Spieler zwanglos zusammenkommen, der Mittwoch gehört der Vorbereitung auf Dänemark. Die Mannschaft sei sehr selbstkritisch, sagte Kreis, sie gehe aber auch konstruktiv mit der Situation um.

Die Scheiben, die unaufgeräumt vor dem Tor herumliegen, die wollen sie nun konsequenter ins Netz kehren

"Wir sind hier und da einen Tick zu verspielt, wollen es zu schön machen", glaubt Kapitän Moritz Müller. "Wir müssen es vielleicht ein bisschen mehr zwingen." Sturm sagte: "Uns hat in allen drei Spielen so ein dreckiges Tor gefehlt, ein Rebound oder vom Schoner weg." Garbage goals nennen sie das, Mülltore, für die man sich nicht zu fein sein darf.

Diese Abpraller, wenn der Torwart den Puck nicht festhalten kann oder mit den dick gepolsterten Beinschützern zur Seite abwehrt, die Scheiben, die unaufgeräumt vor dem Tor herumliegen, wollen sie von nun an konsequenter als bisher ins Netz kehren. Weil es bei der Qualität der Verteidiger und der Torhüter bei einer WM einfacher ist, ein Abstaubertor zu erzielen als durch einen Direktschuss. So ein paar Flusen müssen schon dran sein. "Wir müssen mehr vors Tor gehen, um die loose pucks zu bekommen", sagte Soramies.

Gegen die USA hatten die Deutschen wieder mehr als genug Chancen für deutlich mehr als zwei Tore. Aber trotz des in Dauerschleife wiederholten Mantras, wann immer möglich, auf jeden Fall aber im Überzahlspiel stets einen Mann vor dem gegnerischen Torhüter aufzustellen wie einen Wandschirm, der dem Keeper die Sicht nimmt, konnten die amerikanischen Verteidiger zu oft in aller Ruhe vor ihrem Tor durchwischen. Trotz vier Powerplays und eines Chancenplus von 32:26 konnte nur noch Justin Schütz, einer von acht deutschen WM-Debütanten, den zum besten Spieler seines Teams gewählten US-Goalie Casey DeSmith überwinden. "Unabhängig davon, wie gut der Torwart ist: Wir brauchen sicher mehr Verkehr vor dem Tor", konstatierte Harold Kreis. "Wir sind da ein bisschen von unserem Game Plan weggekommen. Und auf dem Level reicht das halt, dass es dich das Spiel kostet", sagte Nico Sturm. Fünf Minuten vor Schluss traf Matt Coronato zum 3:2 für die USA, als Moritz Seider auf der Strafbank saß.

"Das ist schon bitter, dass man jetzt das Gewehr auf der Brust hat, weil man alle Spiele gewinnen muss", sagte Seider. Niemand müsse sich einen Vorwurf machen, fand der 22-Jährige, einer der Wortführer des Teams. "Jetzt stehen wir halt da mit null Punkten, jetzt können wir's auch nicht mehr ändern." Aber statt zu hadern mit einer Situation, von der sie angesichts des Auftaktprogramms alle wussten, dass sie genauso eintreten könnte, sollten sie den Rückenwind mitnehmen "von den Situationen, die wir kreiert haben", empfahl Seider. "Man darf uns noch nicht abschreiben. Wenn wir jetzt alle Spiele gewinnen, ich glaube, dann meckert auch keiner, wenn du dann im Viertelfinale stehst."

"Leon wäre eine unheimliche Verstärkung", sagt Moritz Seider, "aber wir spekulieren jetzt nicht drauf, dass Leon kommt."

Theoretisch könnte ja sogar noch Unterstützung kommen aus Nordamerika. Sowohl Leon Draisaitl (Edmonton Oilers) als auch Torhüter Philipp Grubauer (Seattle Kraken) sind mit ihren Teams in den NHL-Playoffs ausgeschieden. Ob einer der beiden oder sogar beide zum Team in Tampere stoßen, blieb bis Dienstag aber hypothetisch. "Wir wünschen uns natürlich, dass Leon kommt, wir könnten ihn hier brauchen", sagte Moritz Müller, als er das Ergebnis von Grubauers letztem Spiel noch nicht kannte. "Leon wäre eine unheimliche Verstärkung", sagte Seider. "Aber wir spekulieren jetzt nicht drauf, dass Leon kommt, dann würden wir es uns zu einfach machen."

Das Spiel gegen Dänemark müssen sie aller Wahrscheinlichkeit nach mit dem vorhandenen Kader bestreiten. Gegen das Team des ehemaligen DEL-Profis Heinz Ehlers, das mit drei Siegen ins Turnier gestartet ist, gab es in den vergangenen Jahren viele enge WM-Duelle. 2022 setzte sich das DEB-Team unter Toni Söderholm in Helsinki 1:0 durch, 2019 in Košice auf dem Weg ins Viertelfinale 2:1. 2018 in Herning unterlagen die Deutschen - mit Draisaitl - den Gastgebern nach Penaltyschießen 2:3.

Es ist nicht zu erwarten, dass die Dänen sich so einfach vom Eis fegen lassen wie ein bisschen Schnee. "Man muss wissen, dass wir auch in den nächsten Spielen zurückliegen können", sagte Kapitän Müller, "das muss man mental verkraften können." Wenn die Tore dreckiger werden sollen, ist geistige Hygiene umso wichtiger.

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